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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Pflege in Not - Ständig steigende Pflegekosten belasten Betroffene und Anbieter gleichermaßen

Red., Blickpunkt-Ausgabe 04/2022

Als Antwort auf den Pflegefachkräftemangel hat die Regierung unlängst eine bessere Bezahlung für Pflegekräfte erwirkt. Eine gute Sache – wäre da nicht das Problem der Refinanzierung, denn die entstehenden Mehrkosten werden aktuell fast eins zu eins an die Pflegebedürftigen und ihre Familien weitergereicht, die kaum noch wissen, wie sie diese Beträge aufbringen sollen. Weil das in Zukunft auch die Sozialsysteme weiter belasten wird, empfiehlt ein aktuelles Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium der Regierung, den Leistungskatalog der Pflegeversicherung nicht weiter auszubauen, den Beitrag weiter anzuheben und eine Pflicht zur privaten Pflegevorsorge einzuführen.

Tariflohn und Preisanstieg

Gemäß dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) müssen ambulante und stationäre Pflegedienstleister ihren Pflegekräften seit dem 1.9.2022 einen Tariflohn oder ein ortsübliches Entgelt zahlen. Während das für Pflegende eine positive Lohnsteigerung zwischen 10 und 30 Prozent bedeutet, steigen bei Pflegebedürftigen aktuell die Kosten, weil sich diese bei stationären Aufenthalten in den Eigenanteilen bzw. bei ambulanten Leistungen bei den unzureichenden Beträgen für Pflegesachleistungen – weil vom Bund nicht refinanziert und deshalb direkt an Pflegebedürftige weitergereicht – unangenehm bemerkbar machen. Höhere Energiepreise und die Inflation von über 10 Prozent verschärfen die Lage weiter. Und auch die Zukunft hält weiteres parat: Ab Juli 2023 etwa wird ein neues Verfahren gelten, das vielerorts dazu führen wird, dass mehr Pflegekräfte eingestellt werden müssen, um eine bessere Versorgung zu gewährleisten. Auch das ist eine grundsätzlich wichtige und positive Entwicklung – erwartet wird aber eine weitere Kostensteigerung für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen.

Stagnierende Pauschalen

Aktuell bleiben die Leistungspauschalen der Pflegekassen für Heimplätze dazu unverändert – da helfen auch die seit Jahresbeginn geltenden, zeitlich gestaffelten Zuschüsse der Kassen bei den Pflege-Eigenanteilen nicht vielen, wenn sie an die Dauer des Aufenthalts geknüpft sind und gleichzeitig die Eigenanteile für Unterkunft, Verpflegung und die Investitionskosten weiter steigen. Eigenanteile von bis zu 4000 Euro monatlich sind hier aktuell keine Seltenheit mehr.
Ambulant Betreuten ergeht es auch nicht besser: Aufgrund der gleichgebliebenen Leistungspauschalen wachsen den Anbietern ambulanter Diente die Lohnkosten über den Kopf – ändert sich hier nichts, werden die Mehrkosten direkt an die Pflegebedürftigen weitergegeben und zeichnen sich zusätzlich zu den bereits bestehenden Engpässen erneut längere Wartezeiten auf ambulante Dienste ab. In jedem Fall werden nicht so gut situierte Pflegebedürftige für sie notwendige Leistungen reduzieren oder den Gang zum Sozialamt antreten müssen. Entsprechend steigen die Kosten für die Sozialhilfe seit Jahren beständig an. Dazu kommen die sogenannten Babyboomer (in den Jahren zwischen 1955 und 1969 geboren) – mit knapp 19 Mio. Menschen etwas 22 Prozent der Bevölkerung, die nach und nach in Rente gehen und deren Pflegerisiko Studien zufolge exponentiell steigen wird.

Wer fällt hier wem zur Last?

Weil sich das bereits auch schon bis zum Bundeswirtschaftsministerium herumgesprochen hat, empfiehlt ein vor kurzem dazu in Auftrag gegebenes Gutachten seines Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung, etwa den Leistungskatalog der Pflegeversicherung nicht weiter auszubauen und stattdessen alle Bürger*innen im Erwerbsalter zum Abschluss einer privaten Zusatzversicherung mit Kapitaldeckung zu verpflichten.

„Da der steigende Eigenanteil an den Pflegekosten in Zukunft dazu führen wird, dass vermehrt Pflegebedürftige auf Sozialhilfe angewiesen sein werden, sollte zusätzliche Vorsorge durch eine private Pflichtversicherung erwogen werden. Das gilt insbesondere dann, wenn mit zunehmendem Trittbrettfahrerverhalten gerechnet wird, bei dem einige weder eine freiwillige Zusatzversicherung abschließen noch genügend Ersparnisse bilden und dann im Pflegefall den Steuerzahlenden zur Last fallen“,

heißt es etwa an einer Stelle in diesem Gutachten. Und weiter:

„Die große Kohorte der „Babyboomer“ hat noch zwei Jahrzehnte vor sich, bevor ein nennenswerter Anteil von ihnen pflegebedürftig wird. Angesichts der langen Perspektive ist es den meisten Mitgliedern dieser Kohorte (wie auch allen nachfolgenden) zumutbar, alle über das jetzige Niveau der umlagefinanzierten Pflegeleistungen hinausgehenden Kosten durch eigene Vorsorge abzusichern“.

Das passt so gar nicht zu den Aussagen aus dem Koalitionsvertrag, in dem von einer Begrenzung der Eigenanteile in der stationären Pflege die Rede war, um Ausgaben planbar zu halten, oder von einer Vollversicherung gesprochen wurde, die die Übernahme der Pflegekosten vollständig absichert. Wer pflegebedürftige Menschen als Last bezeichnet, ignoriert Lebensrealitäten wie etwa prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder ein geschlechtsspezifisches Lohngefälle, das oft gar keine Rücklagen bilden lässt – und trifft interessanterweise oftmals auch auf Pflege(fach)kräfte zu. So sind aktuell europaweit mehr als 9,1 Mio. Menschen im Betreuungs- und Pflegesektor tätig, die meisten von ihnen sind Frauen. Ihre Einkommens- und Rentenunterschiede werden auch dann bei uns eine Rolle spielen, wenn sich einige von ihnen entschließen, Deutschland dauerhaft bei der Pflege zu unterstützen.

Andere haben in ihrem Leben vor der Pflegebedürftigkeit bereits oftmals an die dreißig Jahre Pflichtbeiträge in die deutschen Kassen einbezahlt – dürfen sie etwa nicht erwarten, dass ihnen im Pflegefall dafür bestmögliche Pflege zuteilwird? Vielleicht sollte man „die Steuerzahlenden“ einmal befragen, wie zufrieden sie mit der aktuellen Verteilung ihrer Gelder in ein profitorientiertes System sind und welche Prioritäten der Staat hier eigentlich setzen müsste. Und vielleicht riskieren wir dann endlich auch einmal einen Blick über den Tellerrand auf Länder, die mit einem steuerfinanzierten Fürsorgemodell punkten, in dem alle Bürger*innen über eine Vollversicherung verfügen, die vom Staat (und nicht der Wirtschaft) gelenkt wird.

Quellen