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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Änderungen im Pflegebereich: Was bringt das GVWG?

Red., Blickpunkt-Ausgabe 02/2022

Als letztes gesundheitspolitisches Gesetzespaket der alten Regierung hat der Bundestag im Juni 2021 das Gesundheitsversorgungs-Weiterentwicklungsgesetz (GVWG) beschlossen. Basis des Gesetzes ist u. a. die Konzertierte Aktion Pflege (KAP), einer Initiative, die von den Ministerien für Gesundheit, Arbeit und Finanzen ins Leben gerufen und von einem breiten Aktionsbündnis (u. a. Kassen, Verbände, Gewerkschaften, Pflegerat) getragen wird. Als Sammelgesetz umfasst das GVWG entsprechend Änderungen bei 21 Gesetzen und Verordnungen im SGB V sowie die kleine Reform der sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) und führt damit zu zahlreichen Änderungen im Bereich Pflege. Einige sollen hier kurz vorgestellt werden.

Einige Änderungen ab dem 1.1.2022 im Pflegebereich

Stationäre Pflege/Leistungszuschlag zum pflegebedingten Eigenanteil: Seit dem 1.1.2022 erhalten Versicherte der Pflegegrade 2 bis 5 einen finanziellen Zuschlag durch die Pflegeversicherung von 5 % des einrichtungseinheitlichen Eigenanteils (EEE); dieser Leistungszuschlag erhöht sich ab dem 13. Monat der vollstationären Pflege auf 25 %, ab dem 25. Monat auf 45 % und ab dem 37. Monat auf 70 % des EEE. Je länger sich also jemand in der vollstationären Pflege befindet, umso höher ist dieser Zuschlag auf Pflege- und Ausbildungskosten. Angefangene Monate werden als volle Monate gezählt. Das Pflegeheim berücksichtigt bei der Rechnungserstellung den Zuschlag und berechnet nur den bereits verminderten Eigenanteil weiter. Die von Betroffenen zusätzlich zu tragenden Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen werden nach wie vor nicht bezuschusst, auch pflegebedürftige Personen mit dem Grad 1 bleiben unberücksichtigt (§ 43c SGB XI).

Ambulante Pflege/Pflegesachleistungen: Für Pflegesachleistungen/den ambulanten Pflegedienst im Rahmen der häuslichen Pflege wurde die Beträge erhöht (§ 36 SGB XI). Zur Verfügung stehen dafür nun monatlich:

  • 724 € (Pflegegrad 2)
  • 1.363 € (Pflegegrad 3)
  • 1.693 € (Pflegegrad 4)
  • 2.095 € (Pflegegrad 5).

Neu ist, dass bis zu 40 % der ungenutzten Pflegesachleistungsbeträge nun ohne vorherigen Antrag bei der Pflegekasse für nach Landesrecht anerkannte Entlastungsleistungen verwendet werden können (§ 45 Abs. 4 SGB XI).

Kurzzeitpflege: Wenn die häusliche Pflege für eine Übergangszeit im Anschluss an eine stationäre Behandlung des/der Pflegebedürftigen zeitweise nicht erbracht werden kann, besteht unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch auf Kurzzeitpflege in einer vollstationären Einrichtung. Kurzzeitpflege kann bis zu 8 Wochen pro Jahr erbracht werden. Zum 1.1.2022 wurde der Leistungsbetrag um 10 % auf 1.774 € erhöht. Zusammen mit noch nicht in Anspruch genommenen Mitteln aus der Verhinderungspflege stehen dann bis zu 3.386 € im Kalenderjahr zur Verfügung (§ 42 SGB XI).

Übergangspflege im Krankenhaus: Dieser zum 1.1.2022 eingeführte neue Anspruch ermöglicht im unmittelbaren Anschluss an eine Krankenhausbehandlung die Übergangspflege bis zu 10 Tage in dem Krankenhaus, in dem die stationäre Behandlung durchgeführt wurde – wenn sich etwa erforderliche Leistungen der häuslichen Krankenpflege, der Kurzzeitpflege, der medizinischen Reha oder weitere Pflegeleistungen nur „unter erheblichem Aufwand“ sicherstellen lassen (§ 39e SGB V). Zu beachten ist, dass die Krankenkasse und nicht die Pflegekasse für diese Leistungen zuständig ist.

Ambulante und stationäre Pflegeeinrichtungen/Tarifliche Entlohnung von Pflegepersonal: Ab dem 1.9.2022 werden nur noch solche Pflegeeinrichtungen zur Versorgung zugelassen, die ihre Pflege- und Betreuungskräfte nach Tarif oder kirchenarbeitsrechtlichen Regelungen bezahlen oder die Höhe eines Tarifvertrags oder einer kirchenarbeitsrechtlichen Regelung bei der Entlohnung nicht unterschreiten. Für Einrichtungen, die nicht tarifgebunden sind, wird die Wirtschaftlichkeit der Entlohnung nicht infrage gestellt, solange ihre durchschnittliche Entlohnung das regional übliche Entgeltniveau nicht um mehr als 10 % überschreitet (§§ 72 Abs. 3, 3a, b, c; § 82c; § 84 Abs. 7 SGB XI).
Mit einem neuen Personalbemessungsverfahren soll in Pflegeheimen auch ein bundeseinheitlicher Personalschlüssel (Minimal-/Maximalpersonalausstattung) gelten. Ab dem 1.7.2023 werden bundeseinheitliche entsprechende Personalanhaltszahlen vorgegeben, die die Einstellung von weiterem Personal ermöglichen (§ 113c SGB XI).

(Pflege-)Hilfsmittelversorgung: Bei der häuslichen Pflege können Pflegefachkräfte seit dem 1.1.2022 konkrete Empfehlungen zu ausgewählten Leistungen im Rahmen der Hilfsmittel- und Pflegehilfsmittelversorgung abgeben. Die Empfehlung der Fachkraft ersetzt in diesem Fall die Verordnung der Ärzt*innen (§ 40 Abs. 6 SGB XI), muss für Kasse schriftlich begründet werden und dort innerhalb von zwei Wochen eingegangen sein. Auch die Dauer und Häufigkeit von verordnungsfähigen Maßnahmen können von Pflegefachkräften nun bestimmt und durchgeführt werden, sofern diese im vertragsärztlich festgelegten Rahmen liegen. Eine Empfehlung darf nicht bestimmten Leistungserbringern zugewiesen werden.

Erstattungsansprüche gegenüber der Pflegeversicherung: Ab dem 1.1.2022 bestehen solche Kostenerstattungsansprüche weiter, die bisher mit dem Tod der/des Versicherten erloschen waren (wie z. B. Kosten für eine Verhinderungspflege durch einen Pflegedienst oder durch Angehörige, Kosten für Entlastungsleistungen oder Kosten für wohnumfeldverbessernde Maßnahmen), wenn sie innerhalb von 12 Monaten nach dem Tod der/des Berechtigten geltend gemacht werden (§ 35 SGB XI).

Mehr Hinweise auf individuelle Pflegeberatungsmöglichkeiten auch während des Pflegeprozesses: Eine Pflegeberatung mit konkreten Ansprechpartner*innen soll nun bei der Beantragung fast aller Leistungen der Pflegeversicherung 2 Wochen nach Antragseingang entweder durch die Pflegekasse selbst oder mittels eines Beratungsgutscheins ermöglicht werden und so individuelle Fragen klären helfen. Insbesondere verstärkt hingewiesen werden soll nun auf Wohngruppenzuschläge, Pflegehilfsmittel, Zuschüsse zur Verbesserung des Wohnumfelds und die neuen Digitalen Pflegeanwendungen (§ 7b SGB XI).

Förderung der Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf: Erweiterungen halten Pflegeeinrichtungen zur Förderung der Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf ihrer Mitarbeitenden an, u. a. sollen auch Konzepte entwickelt werden, um Pflege- und Betreuungspersonal zurückzugewinnen (§ 8 Abs. 7 SGB XI).

Beitragssatz zur Pflegeversicherung: Der Zusatzbeitrag für Kinderlose steigt von 0,25 auf 0,35 Prozentpunkte. Der allgemeine Beitragssatz bleibt 2022 bei 3,05 % (§ 55 SGB XI).

Einführung eines Bundeszuschusses: Zur Finanzierung der Pflegeversicherung wird 2022 ein jährlicher Bundeszuschuss in Höhe von 1 Mrd. € aus Steuermitteln gezahlt (§ 61a SGB XI).

Andere Neuerungen im GVWG

Das GVWG sieht überdies vor, dass bei den Maßstäben und Grundsätzen (MuG) die Qualität der Versorgung in Krankenhaus und Pflegeeinrichtungen stärker bedacht werden soll. Hierfür werden bundesweit gültige Richtlinien erarbeitet, die notwendige Veränderungen in Struktur, Prozess und Ergebnis sowie Qualifikationen vorgeben sollen. Kurzzeitpflege und teilstationäre Pflege werden hier ab sofort gesondert betrachtet und Maßnahmen zur Qualitätssicherung in Krisensituationen erarbeitet (§113 SGB XI).

Einrichtungsbezogene Vergleiche hinsichtlich der Erfüllung von Qualitätskriterien werden ab sofort veröffentlicht, um Transparenz zu gewinnen.
Qualitätsverträge mit Kliniken sollen Qualitätszuschläge und Abschläge ersetzen. Auch in Krankenhäusern wird – allerdings erst bis 2025 – ein Personalbemessungsverfahren zur Ermittlung des Personalbedarfs eingeführt.
Patient*innenbefragungen im Krankenhaus sollen weiterentwickelt werden.
Für Versicherte wird der Zweitmeinungs-Anspruch auf weitere planbare Eingriffe ausgedehnt. Festlegen soll diese der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Vorsorgeleistungen in anerkannten Kurorten werden von einer Ermessens- in eine Pflichtregelung umgewandelt. Es wird ein Modellvorhaben zur umfassenden Diagnostik und Therapiefindung sowohl bei seltenen als auch bei onkologischen Erkrankungen implementiert.
Die Festlegung und Durchsetzung von Mindestmengen in der Krankenhausversorgung wird durch weitere Verfahrensvorgaben unterstützt.

Im Krankenhaus wird ein bundesweit einheitliches Ersteinschätzungsverfahren für Notfälle eingeführt und die Terminservicestellen werden weiterentwickelt. Über das Verfahren sollen ambulante Notfallleistungen abgerechnet werden.
Berufshaftpflicht/Übertragung von Aufgaben: Vorgesehen ist etwa ein verpflichtender Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung für Ärzt*innen im SGB V sowie die Verpflichtung zur Durchführung von Modellprojekten zur Übertragung ärztlicher Leistungen an Pflegefachkräfte ab 2023.
Die GKV beteiligt sich mit 640 Mio. € pro Jahr an den Kosten der medizinischen Behandlungspflege in vollstationären Pflegeeinrichtungen.
Ein ergänzender Bundeszuschuss an die gesetzlichen Krankenkassen in Höhe von 7 Mrd. € ist ebenfalls beschlossen. Damit soll ein Anstieg der Zusatzbeiträge im Jahr 2022 verhindert werden.

Kritik

Am Gesetz machte sich bereits im Vorfeld massive Kritik von unterschiedlichen Verbänden und Interessengruppen fest. Durchweg als zu substanzlos und vorbei am tatsächlichen Reformbedarf in der Pflege wurde das Paket eingestuft, eine ausreichende und nachhaltige Finanzierung auch im Hinblick auf die Inflationsrate und den weiter steigenden Pflegebedarf in der Zukunft fehle. Große Entlastungsversprechen verkümmern bei genauem Hinsehen und vor allem Durchrechnen zu gleichbleibenden oder steigenden Posten. Selektive Beitragserhöhungen für Kinderlose und besonders der langfristig nicht gedeckelte EEE-Zuschuss in der stationären Pflege bei zu erwartenden steigenden Personalkosten für Pflegekräfte hat allenfalls temporäre Entlastungswirkung, bittet Betroffene also auch in Zukunft weiterhin übermäßig zur Kasse und hat langfristig gesehen auch für die dann einspringenden Sozialkassen ungute Auswirkungen. Zudem ist Erhebungen zufolge die durchschnittliche Verweildauer im stationären Bereich gesunken, die gestaffelte Entlastung nach Verweildauer führt also dazu, dass Betroffene nur noch von den ersten zwei (niedrigeren) Stufen profitieren werden.
Im ambulanten Bereich gibt es dahingehend auch keine Begrenzung der Eigenanteile und manche Pflegesachleistungen (Leistungen der Tagespflege nach § 41 SGB XI und auch auf die Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI) fallen hier durchs Raster. Die im Vergleich dazu sehr viel größere Anzahl von Pflegebedürftigen, die zu Hause betreut werden, und die Pflegegeld erhalten, gehen leer aus.
In Bezug auf die Tarifregelungen wird auch kritisiert, dass es aufgrund der fehlenden Einheitlichkeit keine erhofften Mindestbedingungen für alle Beschäftigten in der Pflege geben kann. Zwar soll das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) unter Beteiligung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) die Auswirkungen der Regelungen zur Tarifbindung/Tariforientierung bis zum 31.12.2025 evaluieren, Expert*innen bewerten dieses Konstrukt aufgrund einer massiven Verkomplizierung und Abweichung von geltenden Grundsätzen aber bereits jetzt als rückschrittlich.
Auch das trotz dringendem Bedarf nicht sofort umgesetzte Personalbemessungsverfahren sowie etwa eine bloße Erweiterung der Tatbestände zur Förderung der Vereinbarkeit von Pflege, Familie und Beruf in den Pflegeeinrichtungen ohne eine Förderungserhöhung bleibt in seiner aktuellen optionalen Ausrichtung vage und wird die Pflege als solches und die Bedingungen für Pflegekräfte sehr wahrscheinlich nicht attraktiver oder qualitativ besser machen – am Grundproblem hat sich also erst einmal nichts verändert.

Quellen