Menschenrechte und Suizidbeihilfe
Christiane Fischer, Blickpunkt-Ausgabe 01/2024
Suizid und Suizidbeihilfe werden immer wieder intensiv diskutiert. In Deutschland ist Suizid straffrei, daher ebenso die Suizidbeihilfe. Verboten ist laut § 216 StGB dagegen die Tötung auf Verlangen. Dürfen daher Suizident*innen andere (insbesondere Ärzt*innen) im Sinne einer Suizidassistenz mit in diese Entscheidung einbeziehen? Darf das ärztliche Standesrecht Suizidbeihilfe untersagen, wenn diese im Strafrecht nicht mit Strafe bedroht wird? Wird das Recht auf Suizid und Suizidbeihilfe von den Menschenrechten und/oder vom Grundgesetz gedeckt oder gar ein Anspruch auf eine Unterstützung dessen gefordert?
Menschenrechte
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die UN-Menschenrechtspakte (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) beziehen sich alle auf das Konzept der Menschenwürde. Somit haben die UN-Mitgliedstaaten grundsätzlich die Pflicht, das Leben des oder der Einzelnen zu schützen, sind jedoch nicht verpflichtet, dies gegen den ausdrücklichen Willen des oder der Einzelnen zu gewährleisten. Diese UN-Menschenrechtspakte enthalten daher ein Spannungsfeld zwischen
- der Pflicht zum Lebensschutz und
- dem Recht auf Autonomie.
Auch die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) legt in Art. 2 fest: „Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt“, aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erkennt nicht das umgekehrte Recht auf die eigene Gestaltung des Lebensendes im Sinne eines Rechts auf autonomes Sterben an. Ob sich aus der in Art. 2 abgeleiteten Schutzpflicht des Staates, das Leben seiner Staatsangehörigen zu schützen, aber auch die Pflicht ergibt, die Beihilfe zum Suizid unter Strafe zu stellen, ist bisher noch nicht geklärt.
Folgendes wird in den Menschenrechtsverträgen festgelegt:
- das Recht auf Privatsphäre (Art. 17 IPbpR);
- das Recht auf den höchstmöglichen Gesundheitszustand (§ 25 Abs. 1, Universale Erklärung der Menschenrechte);
- das Recht auf den Zugang zu unentbehrlichen Arzneimitteln und Gesundheitsdiensten (§ 12, Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte);
- das Recht auf den Zugang zu Forschungsergebnissen (§ 15, Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte).
Die Menschenrechte im Bereich Gesundheit beachten ebenfalls das Autonomieprinzip über die Behandlung oder Nicht-Behandlung jedes Einzelnen. Aus dem Recht auf Gesundheit kann allerdings kein unbedingtes Gebot zu Suizidbeihilfe abgeleitet werden. Das Recht auf Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten und Gesundheitsstationen schließt auch kein Recht auf Zugang zu lebensbeendenden Medikamenten sowie zu lebensbeendender Behandlung ein. Auch aus dem Recht auf Privatsphäre kann keine Pflicht des Staates abgeleitet werden, Suizidbeihilfe grundsätzlich zu verbieten oder zu erlauben. Die Menschenrechtskonventionen verpflichten die Staaten, nicht selbst in das Leben Einzelner einzugreifen, aber auch es vor Eingriffen Dritter zu schützen. In Summe haben Staaten im Sinne der Menschenrechte zwar die Möglichkeit, aber nicht die Verpflichtung, Suizidbeihilfe zu legalisieren oder unter Strafe zu stellen.
Grundgesetz und Menschenwürde
Sowohl die UN-Charta, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als auch das Grundgesetz (GG) berufen sich auf die Menschenwürde. „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“, heißt es da etwa. Die Befürworter*innen der Suizidassistenz berufen sich meist auf Art. 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Hier wird ein würdevolles Sterben mit Suizidassistenz einem würdelosen Tod ohne diese gegenübergestellt. Die Frage eines würdevollen Sterbens (und somit der Menschenwürde) wurde jedoch auch von den Gegner*innen der Suizidassistenz in Bezug auf eine Ausweitung der Palliativmedizin ins Feld geführt, daher scheint die Argumentation nicht haltbar.
Art. 2 GG sieht die freie Entfaltung der Persönlichkeit sowie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit vor. Natürlich dürfen Menschen ihr Recht auf freie Entfaltung auch in der Absicht zur Beendigung ihres eigenen Lebens wahrnehmen. Doch daraus folgt nicht das Recht, Dritte mit in die Entscheidung einzubeziehen, wie dies bei der Suizidassistenz der Fall ist.
Somit können weder die Menschenrechte noch das Grundgesetz als Argument für eine Ausweitung der Suizidassistenz genutzt werden. Menschenrechte sowie Grundrechte sind individuelle Rechte, die jedem einzelnen Menschen zustehen. Mit diesen aber eine Ausweitung des Rechts auf Suizidassistenz zu begründen, scheint daher nicht möglich.
Die Frage der Freiwilligkeit
Die Menschenrechtsverträge verpflichten die Staaten, die Autonomie der Einzelnen zu achten, zu schützen und zu verwirklichen. Die wichtigste Schutzpflicht des Staates ist gleichzeitig, den oder die Einzelne vor Anderen zu schützen. Ob eine Pflicht besteht, den oder die Einzelne auch vor sich selbst zu schützen, ist dagegen umstritten.
In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Frage nach der Zulässigkeit der Suizidbeihilfe. Überwiegt die Schutzpflicht des Staates, das Leben zu schützen oder das Autonomieprinzip des oder der Einzelnen?
Da ein Recht auf Suizidbeihilfe weder aus den Menschenrechten noch aus dem Grundgesetz abgeleitet werden kann, muss ein Staat, wenn er Suizidbeihilfe ermöglicht, sicherstellen, dass die Entscheidung sterben zu wollen, tatsächlich informiert und frei, d. h. autonom (ohne jegliche Druckausübung und Einflussnahme Dritter) getroffen worden ist. Jeglichen Missbrauch gilt es dabei zu verhindern. Ob diese Autonomie vom Staat aber immer sichergestellt werden kann, daran bestehen Zweifel.
Freiwillige Sterbe- und Suizidbeihilfe muss von Staaten rechtlich nicht sanktioniert werden. Aus der Verneinung einer Pflicht zu leben muss aber auch kein Recht auf Sterben hergeleitet werden, eine Suizidbeihilfe somit auch nicht legalisiert werden.
Zusätzlich besteht das Dilemma, dass in der Frage der Suizidbeihilfe die ethische Dimension Dritter berührt wird, also etwa, wenn Suizident*innen andere (insbesondere Ärzt*innen) im Sinne einer Suizidassistenz in diese Entscheidung einbeziehen.
Die Rolle von Ärzt*innen
Ein besonderes Problem entsteht mit der Forderung aus der Politik, dass Ärzt*innen im Besonderen durch ihre Vertrauensstellung dafür geeignet seien, Suizidbeihilfe zu leisten. Auch wenn sie nicht zur Suizidassistenz gezwungen werden sollen, ist zu befürchten, dass der Druck, diese zu leisten, wachsen wird. Eine weitere Befürchtung ist, dass auch der Druck auf Menschen wächst, diese zu verlangen. Werden nicht insbesondere Ärzt*innen, die in der hippokratischen Tradition stehen und primär für Heilung und Gesundheit zuständig sind, über eine Grenze gezogen, wo die Suizidassistenz zur scheinbaren Normalität ärztlichen Handelns wird? In der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer und in zehn von 17 rechtsverbindlichen Berufsordnungen der Landesärztekammern existiert ein ausdrückliches, professionsbezogenes Verbot einer Beihilfe zum Suizid für Ärzt*innen. Ihnen wird vom Gesetz sogar eine „Garantenstellung“ für das Leben eines anderen zugeschrieben; Patient*innen sollen sich darauf verlassen können, dass sie den Kranken nicht schädigen, Leben bewahren und Krankheit zu heilen versuchen, solange das als möglich erscheint und kein Veto vorliegt. In diesem Sinne ist auch das professionsbezogene Verbot der Suizidassistenz zu verstehen. Daher scheinen Ärzt*innen eine sehr ungeeignete Berufsgruppe zu sein, um Suizidassistenz zu leisten. Es scheint daher auch legitim, dass das ärztliche Standesrecht Suizidbeihilfe untersagt, auch wenn diese im Strafrecht nicht generell mit Strafe belegt ist.
Quellen
- Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Urteil vom 29.4.2002 – 2346/02, Rn. 39, abrufbar im Internet unter www.echr.coe.int/documents/d/echr/Reports_Recueil_2002-III.
- Vereinte Nationen 10.12.1948. Resolution der Generalversammlung 217 A (III), Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, abrufbar im Internet unter www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf.
- Vereinte Nationen 19.12.1966. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, abrufbar im Internet unter www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschutz/ICCPR/ICCPR_Pakt.pdf.
- Vereinte Nationen 19.12.1966. Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, abrufbar im Internet unter www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschutz/ICESCR/ICESCR_Pakt.pdf.
- Vöneky, S./Chan, M./Wilms, H.C. 2014. Internationales Recht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Anderheiden, M./Eckart, W.U. (Hrsg.), Handbuch Sterben und Menschenwürde. Berlin: De Gruyter.