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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Die Seele stärken - Psychotherapie bei chronischer Krankheit

Red., Blickpunkt-Ausgabe 02/2022

Den Erhalt der Diagnose einer chronischen Erkrankung beschreiben Betroffene oft wie einen Schock – ein Gefühl, als ob einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Auch wenn sich körperlich zunächst vielleicht keine oder nur wenige Einschränkungen bemerkbar machen, wird die Ungewissheit, wie sich das Leben mit der Krankheit weiterentwickeln wird, für viele Betroffene zu einer nie gekannten, teils existenziellen Belastung. Hier kann Psychotherapie helfen, sich im eigenen Rhythmus auf die neue Situation einzurichten, einen klaren Kopf und klare Gedanken zu bewahren, wieder (Selbst-)Sicherheit und Vertrauen aufzubauen und neue Perspektiven zu entwickeln.

„Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen und die Urteile über die Dinge“ (Epiktet, Handbuch der Moral, 5). "

Was versteht man unter einer Psychotherapie?

Psychotherapie (von altgriechisch ψυχή psyche für Seele und therapeia für Behandlung, Therapie) bedeutet im Sinn eines Platon, Aristoteles oder Hippokrates, den ganzen Menschen, seine Seele, sein Verstand, seine Lebenskraft auszubilden, zu stärken und zu pflegen – in der modernen Psychotherapie, die sich Ende des 19. Jh. mit prominenten Vertretern wie Sigmund Freud (Psychoanalyse), Edward Thorndike (Verhaltenstherapie), Carl Rogers (Gesprächspsychotherapie) oder anderen entwickelte, geht es vornehmlich um die Behandlung psychischer Störungen und Krankheiten, die Hilfe bei der Bewältigung von körperlichen Erkrankungen und Lebenskrisen oder der Behebung von krankmachenden Konfliktsituationen (etwa am Arbeitsplatz) mit unterschiedlichen Verfahren, Methoden und Konzepten.
Das psychotherapeutische Gespräch steht dabei im Mittelpunkt und wird gegebenenfalls durch Übungen unterstützt. Eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Psychotherapeut*innen und Klient*innen ist hier wichtigste Grundvoraussetzung, fachliche und vor allem auch persönliche Qualitäten der Therapeut*innen sind entscheidend und müssen passen. Denn hier soll ein besonders geschützter Raum entstehen, in dem ausnahmslos alles gesagt werden darf. Sitzungen können so, je nach Problemlage, 50 bis 90 Minuten dauern, die Behandlung sich über Wochen, Monate oder Jahre erstrecken und auf unterschiedliche Situationen und Konstellationen (Einzelpersonen, Paare, Familien, Gruppen) ausgerichtet sein. Sie können ambulant oder stationär erfolgen, der Behandlung einer bestimmten Erkrankung dienen oder andere medizinische Behandlungen begleiten.

Psychotherapie bei chronischen Krankheiten

Dass chronische Krankheiten auch psychosoziale Auswirkungen haben und es durch die Therapie der Krankheiten auch zu Wechselwirkungen zwischen Körper und Psyche kommen kann, wurde lange vernachlässigt, bleibt auch heute noch häufig unerkannt oder wird unterschätzt und ist noch nicht routinemäßig in die Behandlung von chronischen Krankheiten integriert. Wenn die Seele aus dem Gleichgewicht gerät, etwa Ängste die Lebensqualität einschränken, Stress-, Schuld-, Hassgefühle oder Zwänge überhandnehmen, sich eine starke Erschöpfung oder Überforderung abzeichnet, sich funktionelle Störungen ergeben, die keine körperliche Ursache haben oder Stress und Ängste bereits vorhandene Schmerzen verstärken, eignen sich psychologische und psychotherapeutische Ansätze gut, weil sie eine Vielfalt an Methoden und Verfahren anbieten und empirisch gut untersucht sind. Sie sind also nicht als Konkurrenz zu anderen Therapieansätzen, sondern als sinnvolle Ergänzung oder als eigenständiger wichtiger Beitrag zur Behandlung chronischer Erkrankungen zu verstehen.
Studien zeigen, dass die Psychotherapie gerade für MS-Betroffene positive Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf hat, weil sie sowohl den körperlichen und psychischen Zustand beeinflusst und Betroffene darin unterstützt, mit der Erkrankung besser zu leben. Entspannungstechniken und das Erlernen von Strategien, um Probleme und Konflikte stressfreier zu lösen und mit Ängsten besser umzugehen, haben, so konnte belegt werden, direkte Auswirkungen auf die Krankheitsprogression.

Aktive Krankheitsbewältigung

Zu einer aktiven Krankheitsbewältigung gehört die individuelle Verarbeitung der neuen Situation. Vielleicht können Sorgen und Ängste nicht im eigenen Umfeld angesprochen oder thematisiert werden, weil sie als zu belastend erfahren werden oder man damit andere nicht beunruhigen möchte. Vielleicht hat man eine Zeitlang das Gefühl, damit allein gut klarzukommen, bis sich Grenzen aufzeigen. Panik, Hilflosigkeit oder das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, können dann überhandnehmen. Für den Erhalt psychischer Gesundheit und einen konstruktiven Umgang mit der Erkrankung ist subjektiv empfundene Kontrolle aber eine wichtige Voraussetzung.
Die Möglichkeit, sich mit einer Person „von außen“ über diese Schwierigkeiten und Gefühle frei zu unterhalten, hilft oft, Ruhe in das Gedankenchaos hineinzubringen, herauszufinden, was wichtig war und bleibt und was helfen könnte, um wieder Orientierung und Klarheit zu finden. Gemeinsam kann überlegt werden, welche Möglichkeiten sich von nun an bieten, wie wieder zu sich selbst gefunden werden und eine Akzeptanz der Situation erreicht werden kann.
Gerade weil bei einer chronischen, bis dato noch unheilbaren Krankheit die Akzeptanz schwerfällt, weil eine exakte Prognose nicht möglich ist und Perspektiven zunächst zu fehlen scheinen, können die Rückbesinnung auf das, was einen als Person auszeichnet, die unterstützende Begleitung durch Familie, Freunde, Netzwerke und Hilfsangebote oder die Hoffnung auf neue Therapiemöglichkeiten wichtige Strohhalme sein, die den Weg in das neue Leben mit der Krankheit ebnen können. Hatte man in der Psychotherapie in früheren Jahren noch das Augenmerk auf das Individuum gelegt, versteht man heute die Wichtigkeit der Einbindung von Betroffenen in ein unterstützendes Umfeld und ermutigt im Rahmen der Therapie entsprechend auch, den Dialog auch mit dem Umfeld zu suchen.

Angebot und Nachfrage

Die Psychotherapie ist seit 1967 eine kassenärztliche Leistung, die genehmigt, vom Betroffenen beantragt und durch die jeweiligen Therapeut*innen bestätigt werden muss – ein*e Gutachter*in entscheidet dann über die Kostenübernahme, denn nicht alle Methoden und Ansätze sind erstattungsfähig. Zu den genehmigungsfähigen Leistungen (die sogenannte Richtlinienpsychotherapie) gehören die Analytische Psychotherapie, die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, die Verhaltenstherapie und die Systemische Psychotherapie sowie eine Abrechnungsfähigkeit für Autogenes Training, Progressive Muskelentspannung, Hypnose und EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) zur Aufarbeitung von posttraumatischen Belastungsstörungen als Einzelbehandlung. Zu beachten ist der in Deutschland dazu gemachte Unterschied zwischen einer psychologischen „Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert“ und psychologischen Tätigkeiten, „die die Aufarbeitung und Überwindung sozialer Konflikte oder sonstige Zwecke außerhalb der Heilkunde zum Gegenstand haben“. Letztere werden nicht zur Psychotherapie gezählt und folglich nicht erstattet. Auch für die privaten Kassen, Beihilfen oder Zusatzversicherungen gelten eigene Bestimmungen.
Am Beginn jeder kassenfinanzierten Therapie liegt somit der Gang zu einer psychotherapeutischen Sprechstunde bei Psychotherapeut*innen mit Kassensitz, in der die notwendige Diagnose gestellt wird und Fragen geklärt werden können. Die eigentliche Behandlung kann nach Genehmigung dann auch bei anderen Therapeut*innen stattfinden.
Grundsätzlich ist die Nachfrage in diesem Bereich aktuell höher als das Angebot. Das liegt zum einen am steigenden Bedarf, aber auch an der besonderen (oft auch langjährigen) Beziehung zwischen Therapeut*innen und Klient*innen und der nicht im Voraus vollumfänglichen Berechenbarkeit der zur Verfügung stehenden Therapieplätze. Nichts desto trotz sollte man sich davon nicht entmutigen lassen und sich bei auftretenden Schwierigkeiten möglichst zügig auf die Suche nach Hilfe begeben. Sehr nützlich für erste Fragen und eine Therapeut*innensuche ist etwa die Seite von Pro Psychotherapie e. V.

Quelle und Therapeut*innensuche