Gier im Arzneimittelbereich - Alemtuzumab: Vom Leukämiemittel zum MS-Präparat
Christiane Fischer, Blickpunkt-Ausgabe 04/2024
Der intravenös zu verabreichende monoklonale Antikörper Alemtuzumab wird bei der Behandlung von zwei verschiedenen Erkrankungen eingesetzt: B-Zell-chronische lymphatische Leukämie (B-CLL) und MS. Obwohl das Medikament für B-CLL-Betroffene unentbehrlich war, wurde es weltweit einfach vom Markt genommen, um als (nicht besonders gut wirksames) MS-Mittel wieder zugelassen zu werden. Da nur wenige Menschen an B-CLL und deutlich mehr an MS leiden, winkte hier wohl ein deutlich lukrativeres Geschäft.
Worum geht es?
Der Wirkstoff Alemtuzumab wurde ursprünglich von einem Unternehmen der Sanofi-Gruppe in der EU und der Schweiz als wirksamer Bestandteil des Fertigarzneimittels MabCampath® zur Behandlung der chronischen lymphatischen Leukämie (CLL) ab Juli 2001 vertrieben. Im August 2012 nahm das Unternehmen Alemtuzumab in Europa plötzlich vom Markt, um es kurz darauf in 2013 unter dem neuen Handelsnamen Lemtrada® für die Indikation Multiple Sklerose wieder auf den Markt zu bringen. Begründet wurde der Schritt damit, dass die Anwendung von MabCampath® bei Patient*innen mit MS so nur noch im Rahmen von klinischen Prüfungen sichergestellt, es also nicht mehr als off-label-Medikation verwendet werden könne. Allerdings hätte MabCampath® problemlos auch eine Indikationserweiterung erfahren können. Offensichtlich gab es also andere Gründe.
Indikationen und Wirkweise
B-Zell-chronische lymphatische Leukämie (B-CLL) Die jährliche Neuerkrankungsrate liegt bei etwa 3–4/100.000, in Deutschland gibt es etwa 3.200 Neudiagnosen pro Jahr. Alemtuzumab wird als Erstlinientherapie bei seltenen, besonders aggressiven Formen eingesetzt und ist bei dieser kleinen Betroffenengruppe besonders gut wirksam. Bei anderen Subgruppen wird Alemtuzumab in der Regel nur als Zweitlinientherapie angewendet. Für einen Therapiezyklus über maximal 12 Wochen werden etwa 1.100 mg des Antikörpers benötigt.
Multiple Sklerose In Deutschland leben derzeit etwa 280.000 Menschen mit MS, jährlich werden ca. 15.000 Erkrankungen neu diagnostiziert. Weltweit sind schätzungsweise 2,8 Mio. Menschen betroffen. In der Behandlung von MS wirkt Alemtuzumab, indem es Immunzellen zerstört, die das Protein CD52 auf ihrer Oberfläche tragen, also T- und B-Lymphozyten, die für die Entzündung und Schädigung des Nervensystems verantwortlich sind. Die Verringerung der Anzahl dieser Zellen soll die Progression der Krankheit verlangsamen und die Häufigkeit von Schüben reduzieren.
Die Behandlung beginnt mit je einer 12 mg-Infusion an fünf aufeinanderfolgenden Tagen. Nach 12 Monaten kommt dann an drei aufeinanderfolgenden Tagen je eine Infusion mit 12 mg Alemtuzumab hinzu. Bei einem Drittel der Betroffenen wird aufgrund neuer Krankheitsaktivität innerhalb von fünf Jahren eine dritte und bei 10 % eine vierte Behandlungsphase mit drei Infusionen an drei aufeinanderfolgenden Tagen notwendig.
Der Wirkstoff ist mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden, darunter einem erhöhten Risiko für Infektionen sowie Erkrankungen der Blutzellen, Schilddrüse und der Niere. Schwere Nebenwirkungen treten oft erst zwei bis drei Jahre nach der Erstgabe auf. Tatsächlich untersucht die Europäische Arzneimittelagentur EMA seit April 2019 mehrere Fälle von schweren, teilweise tödlichen Nebenwirkungen unter Alemtuzumab. Dazu gab es auch bereits mehrere Rote-Hand-Briefe. Bis es hierzu finale Ergebnisse gibt, wird die Neueinstellung auf die schweren Fälle beschränkt: auf Patient*innen mit schubförmig verlaufender MS, deren Erkrankung trotz der Behandlung mit mindestens zwei krankheitsmodifizierenden Arzneistoffen hochaktiv ist oder bei denen andere krankheitsmodifizierende Therapien nicht infrage kommen.
Unverhältnismäßiger Preis
Alemtuzumab gegen MS ist leider auch unverhältnismäßig teuer: „29.000-mal teurer als Gold“ sowie „eine strategisch vorbereitete gigantische Verteuerung des Wirkstoffes“ titelte das Arznei-Telegramm zu seiner Wiedereinführung im Jahr 2013. So stieg der Preis für 1 mg des Wirkstoffs von 21 auf 887 Euro – im Einsatz bei MS-Kranken werden so zwischen 60.000 und 80.000 Euro für einen Behandlungszyklus fällig.
Die Konsequenz: große finanzielle Belastungen über die Steuer für alle Bürger*innen, einschließlich der MS-Betroffenen und für das Gesundheitssystem, da die Behandlung nicht wie von der Sanofi-Tochter Genzyme prognostiziert nach zwei Zyklen abgeschlossen sei, sondern meist langfristig fortgesetzt werden muss.
Oft sind ungerechtfertigte Patente und daher ein Monopol auf Zeit eine zentrale Ursache für diese Mondpreise. In Alemtuzumab als Lemtrada® gegen MS sind kaum Forschungskosten geflossen – u. a. die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) sowie die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) kritisierten dieses Vorgehen deutlich.
Unnötiges Patent
Es gibt drei Mindestbedingungen der Welthandelsorganisation WTO, damit sich ein Produkt (also auch ein Medikament) für ein Patent qualifiziert. Es muss von der Industrie herstellbar, neu und innovativ sein. Alemtuzumab gegen MS erfüllt nur die erste der drei Mindestbedingungen. Es ist weder neu noch innovativ, also ein unnötiges Patent.
Patente sind Sache der einzelnen Länder. Diese können, müssen aber nicht über die Mindestvoraussetzungen hinausgehen. Während Deutschland für eine neue Indikation (in diesem Falle für MS) ein neues Patent zulässt, verbietet z. B. das indische Patentrecht dies. Alemtuzumab gegen MS müsste also nicht zwangsläufig ein Patent erhalten. Denn auch der Nutzen ist stark umstritten: Expert*innen kritisierten die beiden Zulassungsstudien, die Genzyme für Lemtrada® vorlegte, als nicht mit den üblichen wissenschaftlichen Standards vergleichbar, und es zeigten sich nur minimale Effekte gegenüber dem Vergleichspräparat, ein klarer Nutzen wurde also nicht belegt.
Fazit
Ein unentbehrliches und gutes Arzneimittel wurde also aus rein kommerziellen Gründen weltweit vom Markt genommen, erhielt aus denselben Gründen eine neue Indikation und dafür ein neues Patent in den Ländern, die dies in ihrem Patentrecht zulassen wollten. Und das sind einige.
Quellen
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) 2012. Information und Stellungnahme der AkdÄ zur Marktrücknahme von MabCampath®, abrufbar im Internet unter web.archive.org/web/20120901141656/http:/www.akdae.de/Service/Newsletter/Archiv/News/Archiv/2012-168.html (letzter Zugriff 1.6.2024).
arznei-telegramm 2013. Neu auf dem Markt, Alemtuzumab (Lemtrada) bei Multipler Sklerose, abrufbar im Internet unter www.arznei-telegramm.de/html/2013_11/1311098_01.html; Alemtuzumab (Lemtrada) gegen Multiple Sklerose: 29.000-mal teurer als Gold, abrufbar im Internet unter www.arznei-telegramm.de/html/2013_10/1310407_01.html (letzter Zugriff für beide 1.6.2024).
Blasius, H. 2016. Patentschutz in Indien. Neue Richtlinie zementiert die Situation, abrufbar im Internet unter www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2016/05/27/neu-richtlinie-zementiert-die-situation (letzter Zugriff 1.6.2024).
chapterhandbook 2020. Alemtuzumab, abrufbar im Internet unter chapterhandbook.wordpress.com/wp-content/uploads/2020/01/case-study-alemtuzumab-uk.pdf (letzter Zugriff 1.6.2024).
Hübner, K. 2003. Chronisch lymphatische Leukämie: Innovative Therapieschemata mit dem Antikörper Alemtuzumab, abrufbar im Internet unter www.aerzteblatt.de/archiv/36720/Chronisch-lymphatische-Leukaemie-Innovative-Therapieschemata-mit-dem-Antikoerper-Alemtuzumab (letzter Zugriff 1.6.2024).
Mende, A. 2019. Alemtuzumab, Nur noch für schwere Fälle, abrufbar im Internet unter www.pharmazeutische-zeitung.de/nur-noch-fuer-schwere-faelle (letzter Zugriff 1.6.2024).
Pharmazeutische Zeitung 2012. Alemtuzumab: Vom Leukämiemittel zum MS-Präparat, abrufbar im Internet unter www.pharmazeutische-zeitung.de/2012-08/alemtuzumab-vom-leukaemiemittel-zum-ms-praeparat/ (letzter Zugriff 1.6.2024).
Sanofi-Aventis Deutschland 2012. Informationsschreiben – Marktrücknahme von MabCampath®, abrufbar im Internet unter www.akdae.de/fileadmin/user_upload/akdae/Arzneimittelsicherheit/Weitere/Archiv/2012/20120810.pdf (letzter Zugriff 12.5.2024).