Problembereiche für MS-Betroffene (Teil 4): Leistungen der Pflegeversicherung
Red., Blickpunkt-Ausgabe 04/2019
Während es in den ersten drei Teilen dieser Serie um grundlegende Informationen zu Antragstellung (BP 1/19), Geldleistungen der Pflegekasse bei der häuslichen Pflege (BP 2/19) und Sach- und Kombinationsleistungen in der ambulanten, teilstationären und vollstationären Pflege sowie bei alternativen Wohnformen (BP 3/19) ging, machen wir in diesem 4. und abschließenden Teil den Praxis-Check: Im Rahmen einer kleinen, nicht repräsentativen Umfrage haben wir Problembereiche identifiziert, mit denen sich MS-Betroffene bei der Inanspruchnahme von ambulanten und stationären Leistungen konfrontiert sehen.
Einstufung in die Pflegegrade – mal positiv, mal negativ
Bei der Beantragung der Pflegegrade und dem Einstufungsprozess reichen Erfahrungen von sehr positiv (eine regelrecht unterstützende Haltung der MDK-Gutachter*innen) bis sehr negativ (also eine Zuniedrigeinstufung bis hin zu einer Ablehnung einer Zuteilung eines Pflegegrades). Das war besonders dann der Fall, wenn rein nach Aktenlage entschieden wurde, die Betroffenen vorab den abzuarbeitenden Fragenkatalog nicht kannten, nicht auf dessen strikte Einhaltung vorbereitet waren oder für die Gutachter*innen das Thema MS neu war und sie die tatsächlichen Einschränkungen aufgrund mangelnder Erfahrungen falsch eingeschätzt hatten. Wurde danach Widerspruch gegen den Bescheid eingelegt, kamen andere Gutachter*innen, die die erforderlichen Punkte in den unterschiedlichen Bereichen anstandslos verteilten.
Da die Verfassung von MS-Betroffenen oftmals tagesformabhängig ist (Temperaturfühligkeit, akuter Schub, etc.), spielt der Zeitpunkt der Begutachtung eine besonders wichtige Rolle. Dazu kommt, dass die Fragen eher so formuliert sind, dass Betroffene zeigen möchten, was sie noch leisten können und nicht, was nicht mehr zu leisten ist. Wird also unter Aufbietung aller Kräfte demonstriert, was in diesem Moment noch leistbar ist, wirkt sich das nachteilig auf den Bescheid aus und hat eine Einstufung in niedrigere Grade mit weniger Leistungsansprüchen zur Folge.
Ein zu niedriger Pflegegrad führt zu Leistungslücken
Hat man die Einstufung in Pflegegrad 1 erreicht, können durch Akutsituationen (etwa einer akuten Bewegungsunfähigkeit) bereits erste Leistungslücken entstehen. Kein Pflegedienst wird bei dann kurzfristig notwendigen Dingen (Trinken, Toilettengang) abends oder nachts aushelfen können. Mit dem doch sehr geringen Budget für Grad 1 können auch nur sehr wenige Leistungen der Pflegedienste abgerufen werden, da auch die Stundensätze für Assistenzpersonal (für eine Putzkraft bereits bis zu 36 Euro pro Stunde) oft recht hoch angesetzt sind.
Unterstützungsleistungen sind generell zu niedrig bemessen
Die einem MS-Betroffenen zustehenden Leistungen (die den Pflegebedarf eigentlich ganz abdecken sollten) reichen nicht aus, um allen Anforderungen an die individuelle Pflegesituation gerecht zu werden. Nur drei Stunden Unterstützung bei Pflegegrad 4 können da beispielsweise bereits das Budget aufbrauchen – und bedeuten unter Umständen eine Hilflosigkeit der zu betreuenden Person für die restlichen 21 Stunden des Tages. Selbst bei Anwesenheit einer Pflegeperson reicht die zugeteilte Summe bei Weitem nicht aus, um den notwendigen Bedarf zu decken. So kann es passieren, dass Pflegebedürftige und ihre Angehörigen entweder finanziell unzumutbar belastet werden oder klare Abstriche bei der Versorgung machen müssen.
Positiv stellt sich hier dar, dass den Pflegepersonen die Pflegezeit seit 2017 auf die Rente angerechnet wird.
Ambulant vor stationär – das wäre zu wünschen
Alleinstehende MS-Betroffene ohne Familie und unterstützendes Umfeld und ohne ein reichhaltiges Budget wird das Verbleiben im gewohnten Lebensumfeld, so wie der Leitsatz „ambulant vor stationär“ auch suggeriert, erheblich erschwert. Sich über alle Leistungen in der jeweiligen Lebenssituation zu informieren, Formulare auszufüllen, Anrufe zu tätigen, eine Art Buchhaltung zu gewährleisten, Behörden oder Anwälte aufzusuchen und schließlich die Umsetzung der genehmigten Leistungen zu Hause selbst zu organisieren und zu koordinieren: Man stelle sich dies nur einmal praktisch vor mit einer Fatigue, einer Ataxie, kognitiven Einschränkungen oder einem akuten Schub mit einer Geh-, Sprach- oder Sehbeeinträchtigung. Hier scheint man davon auszugehen, dass ein unterstützendes familiäres Umfeld existiert, das solche Dinge automatisch abfängt. Und während mancherorts kirchliche Sozialstationen einspringen, ist solch eine Hilfestellung nicht selbstverständlich überall und für alle abrufbar.
Erfahrungen zeigen auch, dass sich manche Betroffene deshalb notgedrungen in eine Pflegeeinrichtung, etwa ein betreutes Wohnen, begeben, weil die Umsetzung zu Hause (etwa durch eine schwierige Wohnsituation, ein limitiertes Budget oder das fehlende soziale Netzwerk) mit den aktuellen Unterstützungsleistungen nicht realisierbar ist. Sind die eigenen Ressourcen dann aufgebraucht, rutschen Betroffene oft in die Sozialhilfe. Ob man Menschen aber in die Grundsicherung hineinzwingen muss, nur weil sie krank sind, ist hier eine durchaus berechtigte Frage.
Pflegedienste-Engpässe
Dazu kommt die Schwierigkeit, zumindest punktuell einen Pflegedienst zu finden, der im Rahmen der ambulanten Versorgung Kapazitäten freihat. Was also tun, wenn in einer Akutsituation (etwa einem Schub) alle im Umkreis ansässigen Pflegedienste die Pflege nicht gewährleisten können oder wollen? Auch für eine kurzfristig anberaumte Kurzzeitpflege im Notfall, Tagespflege oder für Entlastungsangebote gibt es oft keine oder regional sehr stark variierende Kapazitäten.
Kommt der Pflegedienst, rechnet er immer nach demselben Stundensatz ab, eine Differenzierung nach Aufgabenbereichen (etwa Pflegeleistungen wie Waschen einerseits und Betreuungsleistungen wie das Abstützen beim Toilettengang oder das Reichen eines Getränks andererseits) erfolgt bei den wenigsten Dienstleistern. Durch eine Einteilung in pflegerische und nichtpflegerische Tätigkeiten und die dazu entsprechend angepassten Stundensätze ließen sich aber Kosten einsparen und Gelder für andere Bedarfe nutzen, wo reine Pflegeleistungen nicht durchgängig vonnöten sind.
In diesem Zusammenhang wurde auch vermutet, dass Pflegedienste Leistungen bei Betroffenen, die sehr individuelle Bedarfe haben, ab und an gar ablehnen, obwohl Kapazitäten vorhanden wären – einfach, weil sich Pflegeroutinen so schlechter umsetzen lassen. Wird es hier vielleicht Zeit für einen hippokratischen Eid für Pflegedienste?
Leistungen in Pflegeheimen – ausbaufähig
Auch bei der stationären Pflege gibt es noch Versorgungslücken. Das bezieht sich im Besonderen auch auf das Angebot, das es den Bewohner*innen ermöglichen sollte, die eigene Mobilität und Selbstständigkeit zu fördern und bestmöglich am Leben teilzuhaben. Pflegeheime speziell für MS-Betroffene sind rar gesät und Plätze darin schwer zu bekommen. Neben flexiblen Ausgehzeiten oder Fitness- und Aufenthaltsangeboten im Haus wären ein WLAN-Zugriff, gelegentliche Ausflüge oder ein generelles Beschäftigungsprogramm als Mindestvorgabe zu nennen.
Hilfsmittelbeantragung – ein Kampf
Generell scheint es schwierig, technische Hilfsmittel wie etwa Rollatoren, Hebelifter, Seh- und Hörhilfen, Rollstühle oder Pflegebetten – also Hilfsmittel, die wirklich benötigt werden, um eine Behinderung auszugleichen, (und auf die, so nebenbei gesagt, ein Anspruch besteht), – direkt bei Erstbeantragung zu erhalten. Widerspruch einlegen zu müssen ist hier oft (und das besonders bei teuren Hilfsmitteln) an der Tagesordnung. Interessanterweise hat in einem Fall der Gang vor Gericht diese Serie unterbrochen – seither werden dieser Betroffenen Hilfsmittel anstandslos genehmigt.
Auch wird bei der Beantragung von Hilfsmitteln (im vorliegenden Fall ein Sehgerät) die Kombination von Einschränkungen bei der Begutachtung nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt. Grundlage der Bewertung ist hierfür allein die Sehleistung; Begleitumstände, die diese im Alltag weiter beeinträchtigen (wie sie etwa bei MS-Betroffenen mit Ataxien oder Augenrollen auftritt), spielen hier keine Rolle.
Hat man schließlich die Bewilligung erhalten, kann die Beratung in manchen Sanitätshäusern so eingeschränkt sein, dass man am Ende mit einem ungeeigneten, nicht bedarfsgerechten Hilfsmittel nach Hause geht. Hohe Zuzahlungen für adäquate Produkte sind ein weiteres Problem, das besonders Menschen mit eingeschränktem Budget an Grenzen bringt.
Fazit
Der Leistungsbewilligung zugrundeliegende Bewertungsschemata sind klar auf Systematisierung und Kosteneffizienz ausgelegt. Sie sind dadurch vorwiegend auf Einschränkungen und Krankheitsverläufe anwendbar, die sich eindeutig darstellen lassen. Krankheiten mit individuellen und nicht klar vorhersagbaren Verläufen, die mit wechselnden und multiplen Einschränkungen einhergehen, werden durch solche Bewertungskriterien und entsprechend geschulte Gutachter*innen oft nur grob erfasst. Kommt es durch Fehleinschätzungen zu Engpässen, wird ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Betroffene selbst und/oder das soziale Umfeld die unmittelbaren Folgen überbrücken helfen und ihnen bei der Korrektur der Fehleinschätzungen eine tragende Rolle zukommt.
Kapazitäten von Leistungserbringern sind oftmals tatsächlich begrenzt; notwendige Pflegeleistungen (etwa von Pflegediensten) können aber dadurch von Betroffenen nicht abgerufen werden, wenn sie diese am nötigsten brauchen. Hier entstehen gefährliche Versorgungslücken.
Starr, statisch und auf Kosteneffizienz und Gewinnmaximierung ausgelegt sind oftmals auch andere Leistungserbringer, sodass man sich neben seiner Erkrankung auch immer um eine adäquate Versorgung Gedanken machen muss.
Wir sind uns darüber bewusst, dass Kostenträger und Leistungserbringer wirtschaften müssen. Dass dies aber zulasten der Personen geht, denen das System eigentlich nutzen sollte und die es durch ihre teilweise jahrzehntelangen Zahlungen erst ermöglichen, ist inakzeptabel.
Dringend anraten muss man hier also, sich – obwohl man sich vielleicht gerade nicht mit allen Eventualitäten der Krankheit befassen möchte – frühzeitig mit solchen Szenarien auseinanderzusetzen und für den Akutfall eine Vertrauensperson zu wählen, die unterstützt und mit der man sich über Organisationen und deren Beratungs- und Leistungsangebote im unmittelbaren Wohnumfeld kundig machen kann. Eine unabhängige Pflegeberatung (etwa bei dem VdK) kann hier eine klare Orientierungshilfe bieten.
Doch es bedarf mehr: Ein einheitliches, lokal vorhandenes Koordinierungs- und Beratungsangebot, das übersichtlich und proaktiv im Fall eines Pflegebedarfs schnelle und bestmögliche Unterstützung gewährleistet, ist dringend vonnöten. (Red.)