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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Neues zum Thema Behandlungsfehler: Aufgaben des Medizinischen Dienstes

Anja Bollmann, Blickpunkt-Ausgabe 03/2022

Wussten Sie, dass der Medizinische Dienst (MD) nicht nur bei Bewilligungen von Hilfsmitteln, Behandlungsmethoden, Bezug von Krankengeld oder Pflegebedürftigkeit etc. tätig wird? Als sozialmedizinischer Beratung- und Begutachtungsdienst im System der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung hat er mehrere Aufgaben und wird auch bei dem Verdacht auf einen Behandlungsfehler tätig. Wer vermutet, seinem Arzt/seiner Ärztin sei ein Fehler in der Behandlung unterlaufen, wird von seiner Krankenkasse und dem Medizinischen Dienst unterstützt. Das ist gesetzlich verankert. Die Krankenkasse kann den Medizinischen Dienst damit beauftragen, bei dem Verdacht auf einen Behandlungsfehler ein medizinisches Gutachten zu erstellen.

Hohe Quote

In den letzten Jahren ist die Zahl der Operationen und Behandlungen immer weiter gestiegen. Das gilt auch für die Zahl der Behandlungsfehler. Allein im Jahr 2021 hat der Medizinische Dienst mehr als 13.000 Gutachten zu einem Behandlungsfehlerverdacht erstellt. Nach der Jahresstatistik 2021 „Behandlungsfehler-Begutachtung der Gemeinschaft der Medizinischen Dienste“, Juni 2022, liegt die Quote der bestätigten Behandlungsfehler, die auch für die beklagten Beschwerden ursächlich waren, bei ca. 25 % der Verdachtsfälle.

Aussagekraft für die Patientensicherheit

Die Auswertung ist nicht repräsentativ für die Bewertung der Patientensicherheit. Die Datenerhebung ermöglicht nur einen kleinen und unvollständigen Einblick, denn es gibt auch andere Wege des Vorgehens bei einem Behandlungsfehlerverdacht, die in dieser Auswertung nicht erfasst sind. Es gibt zu Behandlungsfehlern oder Behandlungsfehlervorwürfen keine Bundesstatistik.

Weitere Möglichkeiten

Eine Möglichkeit des Vorgehens ist, den Arzt/die Ärztin direkt anzusprechen. Eine andere besteht darin, die Gutachterkommissionen oder Schlichtungsstellen bei der jeweils zuständigen Ärztekammer einzuschalten. Eine weitere – allerdings kostenintensive und häufig langwierige – Möglichkeit besteht darin, direkt Klage vor dem Zivilgericht zu erheben.
Ebenso wie der Medizinische Dienst erstellen auch die Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Ärzteschaft eine Statistik. Allen Statistiken ist gemein, dass sie sich aus den Auswertungen der Behandlungsfehlergutachten, die Patienten/Patientinnen beantragt haben, rekrutieren.

Anstoß

Auch wenn die Zahlen des Medizinischen Dienstes nicht repräsentativ sind, lässt sich aus ihnen doch die Forderung nach mehr Behandlungssicherheit ableiten. In jedem Fall sind die Zahlen geeignet, einen neuen Anstoß zur weiteren Verbesserung der Situation sowohl der Versicherten als auch der Behandler und zur Risikominimierung zu geben.

Behandlungsfehler im Patientenrechtegesetz

Doch was gilt überhaupt als Behandlungsfehler? Das ist im Patientenrechtegesetz im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) in den §§ 630 a–h geregelt. Nach der gesetzlichen Regelung müssen Patienten/Patientinnen nachweisen, dass ein Behandlungsfehler passiert ist. Sie müssen nachweisen, dass der Arzt/die Ärztin diesen Fehler zu verantworten hat und dass der Patient/die Patientin einen Schaden erlitten hat, der genau auf diesem Fehler beruht. Mit Einführung des Patientenrechtegesetzes sind die Rechte der Patienten/Patientinnen gegenüber Leistungserbringern und Krankenkassen wesentlich gestärkt worden. Das gilt besonders für die Verfahrensrechte bei Behandlungsfehlern.

Ärztliche, zahnärztliche, pflegerische oder sonstige medizinische Behandlung muss angemessen, sorgfältig, richtig und rechtzeitig durchgeführt werden. Beispielsweise dann, wenn

  • eine Behandlung nicht nach den anerkannten Regeln der medizinischen Wissenschaft erfolgt,
  • eine Behandlung unterbleibt oder sie zu spät begonnen wird,
  • eine Diagnose trotz klarer Anzeichen nicht gestellt wird oder
  • ein Patient/eine Patientin über eine Behandlung unzureichend aufgeklärt wird,

spricht man von einem Behandlungsfehler.

Behandlungsfehlervorwurf: Aktueller Fall

Das Landgericht Frankfurt musste sich im Mai 2022 mit dem Fall einer Frau befassen, die unter mehreren Augenbeschwerden litt. Unter anderem bestand eine starke Kurzsichtigkeit, erhöhter Augeninnendruck und Trübung der Linse. Ihr wurde in einer Augenarztpraxis in der Metropolregion Rhein-Neckar deshalb bei einem Auge eine Linse mit mehreren Sehstärken eingesetzt. Kurze Zeit nach der Operation kam es zu einer wesentlichen Verschlechterung der Sehfähigkeit auf nur noch 24 Prozent.
Die Patientin sah den operierenden Arzt in der Verantwortung. Ihm sei ein Behandlungsfehler während der Operation unterlaufen. Er habe sie auch nicht ausreichend über die Risiken der Operation aufgeklärt. Daher habe sie sich nicht für eine andere, weniger riskante Behandlung entscheiden können. Sie sah den operierenden Arzt in der Verpflichtung und verklagte ihn auf ein angemessenes Schmerzensgeld.

Sachverständigengutachten

Im Klageverfahren hat das Landgericht Frankfurt ein Sachverständigengutachten zur Aufklärung des medizinischen Sachverhaltes und Beratung des Gerichts in Auftrag gegeben. Die Sachverständige konnte in ihrem Gutachten nicht feststellen, dass die Operation fehlerhaft abgelaufen ist.

Aufklärungsfehler

Zum Tragen kam aber der zweite Vorwurf der Patientin, der Arzt habe sie nicht ausreichend aufgeklärt. Der Arzt war in der Beweispflicht und musste im Gerichtsverfahren nachweisen, dass er die Patientin vor der Operation rechtzeitig und ausreichend über die Operation und die damit verbundenen Risiken aufgeklärt hat.

Vortrag des Arztes

Der Arzt selbst hat dazu im Gerichtsverfahren angegeben, das Aufklärungsgespräch mit der Patientin am Operationstag selbst geführt zu haben. Etwa eine halbe Stunde vor dem Eingriff habe er sie aufgeklärt. Das sei im Rahmen der vorbereitenden Untersuchung erfolgt.

Bedenkzeit

Das Landgericht Frankfurt hat mit Urteil vom 30.5.2022 – 4 O 147/21 entschieden, dass das nicht ausreichend ist, um eine freie Entscheidung für oder gegen eine Operation ohne Zeitdruck zu ermöglichen. Die Aufklärung habe auch inhaltliche Mängel gehabt. Eine Aufklärung über die Risiken einer Operation müsse – so das Landgericht Frankfurt – so frühzeitig erfolgen, dass dem Patienten genügend Bedenkzeit für seine Entscheidung für oder gegen die Operation verbleibt. Ein Aufklärungsgespräch erst am Tag der Operation oder sogar erst während der OP-Vorbereitung sei wegen des bestehenden Zeitdrucks grundsätzlich verspätet.

Schmerzensgeld

Der Klägerin hat das Landgericht Frankfurt ein Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 € zugesprochen. Die Entscheidung ist allerdings noch nicht rechtskräftig, da der Arzt Berufung zum Pfälzischen Oberlandesgericht Zweibrücken eingelegt hat.

Quellen

Bundesärztekammer
Behandlungsfehler-Statistik der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen. Fehlerhäufigkeiten erkennen, Fehlerursachen bekämpfen, abrufbar im Internet unter www.bundesaerztekammer.de/bundesaerztekammer/patienten/gutachterkommissionen-und-schlichtungsstellen-bei-den-aerztekammern/behandlungsfehler-statistik.
Medizinischer Dienst Bund
Statistik Behandlungsfehlergutachten, abrufbar im Internet unter www.md-bund.de/statistik/behandlungsfehlergutachten.html.