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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Dancing Queen – Zum Casting nach Berlin

Petra Orben, Blickpunkt-Ausgabe 02/2014

„Die DIN A 13 tanzcompany sucht sechs Tänzer bzw. Tänzerinnen für eine multimediale performative (Tanz-) Installation vom 31. März bis 4. Mai in Berlin und Köln: Gesucht werden ein professioneller Tänzer und vier professionelle Tänzerinnen (hiervon eine sehr große Tänzerin) mit starker Performancequalität und sehr guten Kenntnissen aus dem Bereich zeitgenössischer Tanz und Tanztheater und ein Tänzer bzw. eine Tänzerin mit körperlicher Behinderung." Durch Zufall bekam ich diese Ausschreibung in die Hände und war sogleich Feuer und Flamme. „Tänzer/Tänzerin mit körperlicher Behinderung" - das wäre doch was für mich! Okay, ich habe von dieser Art Tanzszene keinen Plan, doch so schwer konnte das ja nicht sein. Dachte ich auf jeden Fall. Bei Rhythmus und Tanz fühlte ich mich früher als Fußgängerin schon immer zu Hause und heute mit dem Rollstuhltanzen sowieso. Warum also nicht?

Neugierig suchte ich auf deren Homepage nach brauchbaren Informationen. Aha, da war ein Video. Wow! Zwei Personen in Rollstühlen bewegten sich mit vier nichtgehandicapten Tänzern zu abstrakten Klängen über eine Bühne. Modernes Tanztheater, wie ich es schon öfter bei Aufführungen von Pina Bausch zum Beispiel gesehen hatte. Nur dieses Mal zusätzlich mit Rollstühlen. Das kann ich auch!

Schnell, vielleicht auch etwas zu schnell, meldete ich mich für dieses Casting an (in Fachkreisen heißt das übrigens Audition), „engagierte" meine Freundin als Begleitung, machte für uns ein Zimmer in der Berliner Jugendherberge fest und buchte unsere Zugfahrkarten. Aus Erfahrung weiß ich, dass es manchmal besser ist, Dinge einfach anzugehen, ohne lange drum herum zu überlegen, zu hinterfragen oder zu analysieren. Denn hätte ich mir im Voraus ausführliche Gedanken über dieses wahnwitzige Berlin-Projekt gemacht, ich wäre mit Sicherheit nicht gefahren. Zu ungewiss! Zu anstrengend! Zu neu die ganze Szenerie!

Okay, also los! Auf zum Zug!

Auf dem Bahnsteig trafen wir auf eine junge Frau im Rollstuhl mit ihrer Begleiterin, die ich beide auf Ende zwanzig schätzte. Stand hier etwa eine Konkurrentin? Meine Intuition übermittelte mir jedenfalls binnen Sekunden diesen Eindruck. Das fing ja schon gut an! Deshalb war ich auch sehr bestrebt, das Gespräch der beiden Frauen etwas „zu belauschen", um einige Informationen über deren Vorhaben zu bekommen. Sie redeten über „dies und das", aber nicht über ein Casting in Berlin. Ich war beruhigt und war mir sicher, dass mich dieses Mal mein erster Eindruck getäuscht hatte. Wie schön!

Wie der Zufall es so wollte, saßen wir vier dann auch noch nebeneinander im selben Abteil. Na ja, so überraschend war das wiederum doch auch nicht, denn in Zügen gibt es nur eine überschaubare Anzahl an ausgewiesenen Plätzen für Menschen mit Behinderung. Wieder lauschte ich ab und an. Ich wollte „nur" ganz sichergehen. Eine Konkurrentin, die wirklich schön und nett aussah und sich obendrein noch sehr gut mit ihrem Rollstuhl bewegte, konnte ich definitiv nicht gebrauchen. Aber auch hier keinerlei Informationen über die Audition. Gut!

Allmählich verließ mich der Mut. Musste es wirklich ein Tanz-Casting im fernen Berlin sein? Obendrein noch als völliger Neuling in dieser ganzen Szenerie? Und war ich körperlich überhaupt fit genug für einen Ausflug in jene professionelle Tanzwelt? Nach einem aufbauenden Gespräch mit meiner Freundin beruhigte ich mich wieder, aß erst mal mein lecker belegtes Brötchen und fühlte mich gleich besser. War ja eh zu spät zum Umkehren.

Nach ein paar Stunden Fahrt sprach ich diese nette junge Frau neben mir an, denn ich hatte mitbekommen, dass sie sich mit ihrer Begleitung über „Persönliche Assistenz" unterhalten hatte. Dieses Thema beschäftigte mich nämlich auch. Hier würde ich vielleicht ein paar wertvolle Tipps bekommen. Mein Lauschen könnte sich also auszahlen! Und in der Tat, sie konnte mir tatsächlich einige Fragen zum Thema Assistenz beantworten. Es war ein interessantes und offenes Gespräch, an dem sich auch unsere beiden Begleiterinnen beteiligten. Da hatte sich mein Berlintrip ja fast schon gelohnt. Zugfahren kann ja so kommunikativ sein!

Die Konkurrenz schläft nicht

Und dann!!! Mitten im Gespräch sagte sie: „Ich fahre nach Berlin zum Vortanzen." Wie vom Donner gerührt saß ich auf meinem Sitz. Also doch!!! Hatte mich mein Gefühl nicht getäuscht. Ich sollte meiner Intuition wirklich immer Glauben schenken!

Von dem ersten Schreck erholt fragte ich sie, wie sie von der Audition gehört habe und ob sie etwas mit Tanzen am Hut hätte. Eine Freundin sei die Informantin gewesen, und es stellte sich heraus, dass ich diese sogar flüchtig kannte. Na, so ein Zufall! Weiter erzählte sie mir, dass sie in Düsseldorf wohne und bis vor einigen Jahren aktiv Rollstuhltanzen gemacht habe. In genau dem Verein, in dem ich jetzt seit knapp zwei Jahren tanze. Das gibt's doch gar nicht! Was sind denn das alles für Zufälle?! Im Nu waren wir beide in ein Fachgespräch über Tanzen vertieft. Und während wir so nett plauderten, wurde mir auf einmal bewusst, dass diese charmante Frau unterm Strich tatsächlich eine „Gefahr" für mich bei der Audition sein könnte.

Eine Konkurrenzsituation! Damit konnte ich auf die Schnelle nicht umgehen. Eine total neue Erfahrung! Seit Jahren bin ich es gewohnt, dass ich mit nichtgehandicapten Frauen wetteifern muss. Aber hier war plötzlich jemand auf Augenhöhe. Das war vielleicht komisch! Außerdem bin ich meistens die einzige Rollstuhlfahrerin in einer Gruppe von Leuten, da habe ich dann den Sympathiebonus schon fast automatisch.

Was dachte ich nun über meine Mitstreiterin? Fand ich sie jetzt weniger nett als vorher? War sie etwa besser als ich? Nahm sie mir tatsächlich meine Chance, als behinderte Tänzerin ausgewählt zu werden? Immerhin könnte sie ja die Choreographin so vom Hocker hauen, dass sie genommen würde und nicht ich. Im Laufe unserer Weiterfahrt verflüchtigten sich diese negativen Gedanken dann wieder. Da war ich aber heilfroh!

Willkommen in Berlin

Mit erheblicher Verspätung kam unser Zug in der Hauptstadt zum Stehen. Wir vier verabschiedeten uns vorerst voneinander. Jetzt aber schnell raus! Mist, durch die Zeitverzögerung hatten meine Freundin und ich nur noch knapp anderthalb Stunden Zeit, um zur Jugendherberge zu gelangen, das Zimmer in Augenschein zu nehmen, unser Gepäck dort zu deponieren und dann noch pünktlich zur Audition zu kommen. Wir hetzten los, fanden sogar ziemlich schnell den richtigen Bus, und nach dem Aussteigen rannten wir zur Jugendherberge. Schlange an der Rezeption! Auch das noch! Langsam wurde ich nervös. Dann zügig eingecheckt, fix die Sachen ins Zimmer geschmissen, einmal noch auf Toilette gewesen, die Haare gekämmt und schon ging es wieder los. Und weil Berlin nicht Mettmann ist, waren dort die Entfernungen ja erheblich größer als ich es gewohnt war. Und wenn jemand sagt: „Is nich weit", muss das noch lange nicht mit meiner Vorstellung von Entfernung übereinstimmen. Deshalb hatte ich mich dann auch mit der Zeit verschätzt. Zu lange hatte der Hinweg zur Jugendherberge gedauert und unser Kurzaufenthalt dort. Also, nicht mit Bus und Bahn zum Tanzevent, sondern ab ins Taxi. Was für eine Hetzerei!

Tatsächlich „Dancing Queen"

Als wir in die Veranstaltungshalle stürmten, war die Audition schon in vollem Gange. Die professionellen Tänzer (es waren 38) tummelten sich auf dem Boden und lauschten einem Mitarbeiter der Choreographin, der wichtige Grundinfos zum Ablauf gab. Was sah ich da?! Da stand noch eine Frau im Rollstuhl. Jetzt waren wir also schon zu dritt. Und somit verringerte sich meine Chance genommen zu werden erneut. Das war ja blöd! So viel Konkurrenz an einem Tag!

Dann ging es auch schon los mit einem „warming up". Der Trainer turnte vor, die anderen turnten nach. In weniger als einer Minute hatten alle Profitänzer den Ablauf drauf. Wahnsinn! Wir drei Rollifahrerinnen sollten das mitmachen, was wir konnten. Na schön! Also los!

Im weiteren Verlauf der Audition gab es immer wieder unterschiedliche Aufgaben, die man unter den strengen und fachkundigen Blicken der Choreographin und des Trainers erfüllen musste. So sollten wir neben verschiedenen Tanzbewegungen auch schauspielerische Szenen zeigen, entweder allein, zu zweit oder in kleineren Gruppen. Einmal gab es die Aufforderung, das Gefühl von Wut darzustellen. Jeder für sich und ohne Worte zu Hilfe zu nehmen. Ups! Gar nicht leicht, mal eben auf Knopfdruck. Wie drückt man denn Wut aus, wenn es kein Gegenüber gibt, auf das man wütend sein kann?! Hatte aber geklappt – zumindest musste ich diese Sequenz nicht noch einmal wiederholen.
Oder ein anderes Mal ging es darum „Skulpturen" zu schaffen. Will heißen, man war zu zweit, der eine aktiv und der andere passiv. Von einem äußerst smarten Tänzer aus Serbien ließ ich mich sehr gern „in Form" bringen. Das Ganze hatte sogar eine stark sinnliche Komponente. War richtig aufregend und hat mir mächtig Spaß gemacht.

Insgesamt gab es zwei kleine Pausen, an deren Ende jeweils einige Tänzer und Tänzerinnen aussortiert wurden. „Thank you for coming." Ach ja, die ganze Audition war in Englisch, weil es eine internationale Company ist. Wir drei Rollstuhlfahrerinnen wurden noch nicht nach Hause geschickt. „You three stay."

Um 20:00 Uhr waren nur noch etwa zehn von den anfangs 38 Bewerbern übrig und für uns Rollis war hier an dieser Stelle das Auswahlverfahren zu Ende. Bei uns bedankte sich die Choreographin persönlich. Sie fragte kurz, wie wir uns gefühlt haben, und entließ uns mit den Worten: „Ich rufe euch so schnell wie möglich an."

Ich war ganz schön geschafft. Fast fünf Stunden am Stück mich „tänzerisch" zu bewegen, war ich ja gar nicht gewohnt. Aber ich hatte es echt gut hingekriegt! Hunger meldete sich. In diesem Moment hätte ich so gut wie alles essen können, ausgenommen Fleisch natürlich. Meine Freundin und ich hatten uns kein Lunchpaket für diesen Tag mitgenommen, weil wir echt davon ausgegangen waren, dass wir dort was zu essen bekommen würden, zumindest eine Kleinigkeit. Immerhin war die Audition von 15:00 bis 22:00 Uhr angesetzt.

Erschöpft und hungrig stiegen wir in die U-Bahn, fuhren bis zum Potsdamer Platz und stürmten in den nächstbesten türkischen Imbiss. Für jeden von uns gab es eine „Falafel" auf die Hand (frittierte Bällchen aus pürierten Bohnen oder Kichererbsen, Kräutern, Gewürzen, Salat, Knoblauchsoße, das Ganze eingerollt in dünnes Fladenbrot). Lecker! Und nach diesem Casting-Erlebnis schmeckte es gleich dreimal so gut.
Und weil wir jetzt schon da waren, wo sich Berlins berühmte Kinoszene befindet, sind wir die Kopie des „Walk of Fame" abgelaufen (der Boulevard in Hollywood, auf dem die großen und kleineren Kinostars durch Sterne im Asphalt verewigt sind) und haben erstaunt gelesen, welche Kinopersönlichkeiten dort ewiges Andenken bekommen hatten. Zu Fuß schoben wir dann zurück in die Jugendherberge, und dort konnte mich auch das Stockbett nicht mehr schocken. Nur rein, den Kopf nicht anstoßen beim Übersetzen und schlafen!

Am sehr sonnigen Sonntag waren wir nur als Touristinnen unterwegs. Wir ließen uns entspannt von einem Sightseeingbus kutschieren, vergnügten uns am Ufer der schönen Spree, saßen gemütlich in einem Café und um 16:00 Uhr ging es aus der großen, weltoffenen Metropole Berlin wieder zurück in die überschaubare Stadt Mettmann.

Die Entscheidung

Jetzt hieß es warten. Warten auf den Anruf von Gerda, der Choreographin.

Sollte ich genommen werden, dann hieße das, mehrere Wochen am Stück in Berlin sein, proben und einige Aufführungen absolvieren, in einer Künstlerwohnung wohnen (die dann extra für die Tänzer angemietet wird) und überhaupt dort irgendwie zurechtkommen zu müssen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nichts Genaues. Es hatte darüber vorab noch kein ausführliches Gespräch mit den Verantwortlichen der Tanzcompany gegeben. Ich hatte einfach darauf vertraut, dass ich, sollte man mich nehmen, alles schon irgendwie hinkriegen würde.

Sollte ich nicht ausgesucht werden, auch gut. So oder so war es eine super interessante Erfahrung, die ich so schnell aber auch nicht mehr machen werde. Obwohl, wer weiß ...

Noch immer warten auf den Anruf. Endlich! Ich hatte Gerda persönlich am Telefon. Sie teilte mir mit, dass es die „dritte Frau" geworden ist. Sie passe besser zu ihrer Vorstellung von Rollstuhltänzerin, und außerdem verfüge sie bereits über einige Erfahrung im Tanzmilieu. Im ersten Moment war ich traurig. Ich hatte eine Ablehnung bekommen, wo ich mich selbst doch bei dieser Audition so toll fand. Aber unterm Strich musste ich ihr schon zustimmen. Ich bin noch nicht soweit, um bei einer professionellen Tanzperformance mitzumachen. Wie denn auch, es war ja mein allererster Ausflug in diese Art von Tanzwelt. Außerdem hatte mir auch noch nie jemand erklärt, wie ich mich gekonnt und mit starkem Ausdruck in Szene setzen kann. Da bedarf es echt noch einiger Übung, wenn ich mich auf diesem Terrain weiterhin tummeln möchte.

Möchte ich! Und deshalb schaue ich mich nun verstärkt nach Workshops um die Tanz, Bewegung und Selbstausdruck zum Thema haben. In Wuppertal gibt es zum Beispiel das Tanzstudio „Movimiento". Oder vielleicht hat ja auch das „Tanzhaus NRW" in Düsseldorf Ähnliches anzubieten. Mal sehen ...

Herzlichst Ihre
Petra Orben

Nachtrag: Im Mai habe ich dann doch noch bei einer Performance der tanzcompany mitgemacht - dieses Mal in Köln, im Rahmen eines mehrwöchigen Festivals. Nach einer Woche Training war ich, gemeinsam mit noch einem Rollstuhlfahrer, meiner „Konkurrentin aus dem Zug" (so sieht man sich wieder) und zehn Studierenden der Sporthochschule Köln (allesamt nicht gehandicapt) drei Mal im Vorprogramm für die eigentliche Hauptinstallation der DIN A 13 tanzcompany zu sehen. Eine tolle Erfahrung! Großartig!

Die DIN A 13 tanzcompany wurde 1995 von der Choreografin Gerda König gegründet und ist international eines der wenigen Tanzensembles, deren Mitglieder sich aus Tänzern mit unterschiedlichen Körperlichkeiten zusammensetzt. Der künstlerische Ansatz der Kompanie liegt in der Erforschung und Sichtbarmachung der Bewegungsqualität „anderer Körper", die in ihrer Diversität für die choreografische Arbeit genutzt wird. Vermutete Grenzen und Wertungen zwischen körperlichen Besonderheiten und tänzerischer Höchstleistung werden in choreographischen Bildern aufgelöst - und so wird das Unerwartete eines anderen Körpers zur ästhetischen Erfahrung, deren Ausdruck neue Qualitätsmaßstäbe setzt.

In Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut entstanden Tanzproduktionen mit regionalen und internationalen Künstlern in Äthiopien, Südafrika, Brasilien, Kenia, Ghana, dem Senegal und Sri Lanka (jetzt in Produktion). Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit der DIN A 13 tanzcompany ist die Durchführung von Festivals, insbesondere des „Crossings Dance Festivals", das in Kooperation mit dem „Tanzhaus NRW" bereits drei Editionen gefeiert hat.
www.din-a13.de