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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Zum Glück keine Flaute

Martin Honcu, Blickpunkt-Ausgabe 03/2024

Als ich diesen Bericht für den Blickpunkt schreibe, ist gerade der heißeste Tag des Sommers vorbei. Wie kommt ihr mit der Hitze klar? Mir macht sie stark zu schaffen, ich könnte jetzt etwas Abkühlung gebrauchen. Oft ist es am Wasser etwas angenehmer. Nur am Wasser oder auch auf dem Wasser? Das teste ich beim ORV, dem Offenbacher Ruderverein 1874 e. V. Die Geschichte des Vereins ist schon mal spannend. Zunächst als Ruderverein gegründet, kam 1931 Feldhockey dazu. 1968 wurde das Angebot durch Segeln ergänzt. Mittlerweile gibt es sogar ein Drachenboot, was der Ruderabteilung zugeordnet ist.

Inklusion auf dem Wasser

Und es gibt noch etwas Interessantes beim ORV: Sie haben sich „Wir bringen Inklusion aufs Wasser“ auf die Fahnen geschrieben. Genau das will ich testen: Wie ist es, als Rollstuhlfahrer zu segeln? Dazu treffe ich Holger Alix, den Abteilungsleiter Segeln und Matthias Sator, den Übungsleiter. Beide präsentieren mir stolz ihr 2023 in Dienst gestelltes Segelboot „Inkludine Vera“. Das SV\14 ist ein spezielles Schiff, das vom holländischen Designbüro Simonis-Voogd konstruiert wurde. Alexis Simonis und Maarten Voogd widmeten diese Konstruktion einem Freund, der an MS erkrankt ist und dem sie das Segeln ermöglichen wollten. Mittlerweile ist das SV\14 ein Serienboot, das in Zusammenarbeit mit Fareast Yachts kostengünstig in Shanghai gefertigt wird, aber sehr hochwertig ist. An dem Boot müssen keine Umbauten vorgenommen werden, denn bei der Konstruktion wurde schon an alles gedacht. Simonis-Voogd und die Organisation SV14.org, die sich für weltweites inklusives Segeln einsetzt, legten fest, dass das Boot zum Selbstkostenpreis verkauft werden muss. Daher öffnen sich immer mehr Segelvereine der Inklusion, da das Boot in der Anschaffung erschwinglich ist.

Das erste Mal auf der SV\14

Das SV\14 ist für zwei Leute ausgelegt. Hinten sitzt der Steuermann (oder auch die Steuerfrau), immer erfahrene Segler*innen. Sie geben die Kommandos und bedienen das meiste, u. a. das Hauptsegel. Ich sitze vor dem Steuermann in einem Schalensitz, das ist sehr stabil, ich könnte mich aber auch anschnallen. Auch könnte ich das Sitzkissen aus dem Schalensitz mit meinem Kissen aus dem Rollstuhl tauschen, um einen noch perfekteren Sitz bzw. Halt zu haben. Holger und Matthias sind sehr hilfsbereit und helfen mir, vom Rollstuhl ins Boot zu kommen. Dass beide das nicht zum ersten Mal machen, merkt man sofort.
Beim ORV segeln Leute mit verschiedensten Beeinträchtigungen, darunter auch Blinde und an MS Erkrankte. Sie segeln aber mittlerweile nicht nur aus Spaß an der Freude, sondern nehmen auch an Regatten teil und messen sich bei Wettfahrten mit anderen Crews.

Meine Aufgabe ist es, das Fock (Vorsegel) auf Spannung zu halten und es bei jeder Halse („Wende“ vor dem Wind) auf die andere Seite und wieder auf Spannung zu bringen. Natürlich könnte ich auch noch andere Sachen bedienen, aber für das erste Mal bin ich mit dieser Aufgabe genug beschäftigt. Beruhigend ist es zu wissen, dass der Steuermann zur Not das Boot auch allein navigieren kann. Dazu hat er auch einen Fahrradlenker, an dem es Schalter gibt. Mit diesen Schaltern kann er die Schalensitze nach links oder rechts kippen. Wenn das Boot etwa aufgrund von Wellengang Schräglage hat, kann er so die Schalensitze immer elektrisch aufrecht stellen. Das Geradesitzen im Boot gibt mir ein großes Gefühl von Sicherheit – wobei ein Kentern auch nahezu ausgeschlossen ist, denn wie man auf dem einen Bild sieht, ist der Kiel sehr lang und hat auch viel Gewicht, sodass die Gefahr des Kippens nicht gegeben ist.

Voraussetzungen

Auf meine Frage, was man als Voraussetzung für das Segeln mitbringen sollte, meinten beide übereinstimmend: Nicht viel. Es braucht lediglich Lust es auszuprobieren, man sollte etwas neugierig sein, und auch Geduld ist gefragt. Das Wetter muss nämlich mitspielen, denn bei Flaute bzw. Sturm macht Segeln nicht ganz so viel Spaß bzw. ist unmöglich. Alle weiteren Bedingungen spricht man am besten persönlich ab, denn jede*r von uns hat andere Einschränkungen, von daher sind pauschale Aussagen schwierig.

Informationen

Weitere Informationen über den ORV findet ihr hier: www.orv1874.de.
Ich weiß, viele von euch wohnen nicht in der Nähe von Offenbach, möchten jetzt aber vielleicht dennoch das Segeln einmal ausprobieren. Vereine in eurer Nähe findet ihr auf der Homepage des deutschen Seglerverbands: www.dsv.org/segeln/inklusives-segeln/vereine-mit-inkl-angebot/65293/.
Und wer Segeln sogar aktiver ausprobieren möchte, z. B. im Urlaub, ist bei dem holländischen Verein Sailwise, der über 50 Jahre Erfahrung mit dem Segeln mit Menschen mit Beeinträchtigung hat, sehr gut aufgehoben. Der ORV bietet dort auch regelmäßig Gruppenreisen an: www.sailwise.nl/de/. Auf deren Katamaran kann man sogar mit einem Rollstuhl drauffahren. Sie bieten Einzelurlaube, aber auch Gruppenreisen an.

Fazit

Ich bin froh, Holger und Matthias getroffen zu haben und ihnen sehr dankbar, dass ich das Segeln einmal ausprobieren durfte. Mir hat es sehr viel Spaß gemacht, ich habe auf dem Wasser völlig das Zeitgefühl verloren. Mir wurde gesagt, dass ich das Segelboot mit einem fetten Grinsen im Gesicht verlassen hätte. Also nur Mut, probiert es selbst einmal aus. (Wer allerdings nicht schwindelfrei ist, dem rate ich dann doch davon ab).