Krank = machtlos? Scheinbar schon!: Unangenehme Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem
Petra Orben, Blickpunkt-Ausgabe 04/2019
Nach meinen doch sehr positiven Erlebnissen (siehe BP 3/19) ist mir jetzt etwas passiert, das mich erschüttert hat und mich auch Wochen nach dem Ereignis regelrecht blockiert, und zwar so, dass es mir schwerfällt, auch nur eine Zeile zu schreiben: Mir fehlen schlichtweg die Worte. Meine Kreativität hat sich (vorübergehend) ausgeklinkt. Aus diesem Grund ist mein heutiger Beitrag auch nicht auf „normalem Weg“ entstanden, sondern ist ein Gemeinschaftsprodukt von mir und der Redakteurin Christine Hausmann, die meine Geschichte für mich aufgeschrieben hat. Liebe Christine, ich danke dir sehr!
Hoffnungen, die sich nicht erfüllen
Wenn ich mal zurückdenke an den Anfang meiner Krankheitsgeschichte, dann habe ich doch sehr häufig Menschen (meistens Männer, sei es Neurochirurgen, Psychotherapeuten oder Ähnliches) im Gesundheitssystem kennengelernt, die an mir und meiner Krankheit ein Interesse hatten und mir das Gefühl vermittelt haben, mich heilen zu können. Als chronisch kranke Person neige ich dann natürlich auch immer wieder dazu, nach jedem Strohhalm zu greifen und sei alles noch so irrsinnig oder seltsam. Ich habe also Angebote bekommen, irgendwelche Dinge zu tun, die mir Heilung versprachen, und wenn dann Hoffnung in mir keimte, ich den Personen vertrauen konnte und Bereitschaft für diese Behandlung signalisiert habe, dann war das alles plötzlich so doch nicht mehr umsetzbar. Zack! Zurück auf den Boden der Realität geknallt, zurück auf Start – wieder aufrichten und weitermachen. So ähnlich ist es mir nun wieder ergangen – nur war es dieses Mal eine Enttäuschung zu viel, wie mir scheint.
Endstation Pflegestation
Mir ging es in letzter Zeit nicht mehr so gut, die Bewegung war stark eingeschränkt und Bekannte hatten mir eine Klinik empfohlen, die sich besonders durch Bewegungstherapieangebote auszeichnet. (Es war nicht die ehemalige Eversklinik im Sauerland, aber dort in der Nähe.) Ich habe also wieder gehofft – nur, was mir dort passiert ist, hat meine Hoffnungen buchstäblich im Keim erstickt. Ich bin dort wohl fälschlicherweise auf der Pflegestation gelandet und eine Woche lang wie ein Pflegefall behandelt worden. Wie jemand, der hochgradig pflegebedürftig ist, der keine eigene Meinung mehr hat, den man um halb 7 ins Bett steckt, weil es sonst dienstlich nicht anders geht. Alles musste ich mir dort erkämpfen, durfte dann tatsächlich mittags und abends im großen Essraum essen, statt auf dem Zimmer. Für jeden Handgriff musste ich Hilfe in Anspruch nehmen. An der Toilette hatten die da nur einen Haltegriff. Geht ja gar nicht! Und das Pflegebett war für mich viel zu hoch. Mein Körper war zu schwach, um da raufzukrabbeln. In medizinische Entscheidungen wurde ich nicht einbezogen und die Bewegungsangebote, die für mich eigentlich nötig gewesen wären, habe ich auch nicht erhalten. Von der nur äußerst rudimentären Wundversorgung am Gesäß ganz zu schweigen, obwohl dies als zweite Indikation deutlich auf der Einweisung stand.
Hilflos hoch zehn
Ich habe mich schrecklich gefühlt – zu verstehen, dass ich am Ende der Leiter angekommen bin, wie auf der Pflegestation im Pflegeheim, das hat mich fast umgetrieben, mich wehrlos gemacht. Phasenweise konnte ich einfach nur heulen wie ein Schlosshund. Meine Bettnachbarin, eine ältere Dame (die auch nicht viel besser behandelt wurde als ich), war dann groß in Sorge um mich. Auf ihre Art hat sie mir oftmals lieben Zuspruch gegeben. Dass man auf einer Pflegestation so behandelt wird, als hätte man nichts mehr zu wollen – das hätte ich mir in meinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen können.
Ich habe versucht, mich einigermaßen dem Klinikalltag anzupassen, aber nach einer Woche wusste ich, da muss ich raus, sonst gehe ich kaputt. Bloß weg hier! (PS: Es gab aber auch nette und aufmerksame Schwestern bzw. Pfleger. Es waren nicht alle nur schrecklich. Aber das Gesamtpaket machte es so furchtbar.)
Zurück zu Hause
Zurück zu Hause hat es mir dann buchstäblich den Boden unter den Füßen weggerissen. Ich konnte nichts mehr alleine, war total schwach, völlig kraftlos, brauchte für jeden Handgriff Hilfe, fühlte mich nicht mehr sicher und hatte „plötzlich“ riesengroße Bewegungsängste. Was natürlich total blöd ist, denn Bewegungen jeglicher Art finden x-mal am Tag notwendigerweise statt. Auf so was war natürlich niemand vorbereitet gewesen. Meine private Pflegeperson wuselte von früh bis spät um mich herum, im Wechsel mit einer lieben Nachbarin. Die beiden haben sich richtig große Sorgen um mich gemacht und haben mir geholfen, wo sie nur konnten. Ich muss dazu sagen, dass meine Pflegeperson ein guter Freund ist und immer hin- und herfahren musste, weil wir nicht zusammenwohnen. Was für ein Einsatz von ihm!
Keine Besserung in Sicht
Auch noch jetzt, viele Wochen nach dem Klinikaufenthalt, fehlt mir die Energie für die anstrengenden Aufgaben, die meinen Alltag pflastern und die ich bewältigen muss. Jeder Transfer ist für mich eine Qual und zum Teil lebensgefährlich, wenn ich alleine bin. Bei dem ganzen Gerödel geht meine Psyche zu Fuß, kommt mit all diesen schlimmen Erfahrungen nicht gut klar und hat keine so rechte Orientierung mehr, sodass ich meine Gedanken auch nicht mehr zu Papier bringen kann. Diese (schriftliche) Sprachlosigkeit bei mir selbst zu erleben – ich hätte nicht gedacht, dass mir das mit meiner Persönlichkeit, meiner Kraft und meinem Lebenswillen überhaupt so ergehen könnte. Einzig dann, wenn ich jemanden habe, der mit mir zusammen Dinge angeht, kann ich loslassen und Energie tanken. Respektvolle Menschen um mich herum, die mich hören und sehen, in meinem Schmerz und meiner Hilflosigkeit, die mich in meiner Art von Leben akzeptieren und unterstützen.
Psychologische Begleitung in Kliniken? Fehlanzeige!
In dieser Klinik, in der ich jetzt war, gab es weder Psychologen noch Seelsorger noch Nonnen. Ich fühlte mich so furchtbar allein! Konnte meine Zukunftsängste und meine Hoffnungslosigkeit niemandem mitteilen. Was würde aus mir werden, wenn ich weiterhin so schwach bliebe?
Gerade weil man doch mittlerweile weiß, wie wichtig die Psyche im Heilungsprozess ist, kann ich so gar nicht nachvollziehen, warum es in all den MS-Kliniken, in denen ich war, nicht einen einzigen Psychologen gab. Ganz selten bin ich auf Nonnen oder eine pfiffige Sozialarbeiterin gestoßen, aber das gibt es bei Weitem nicht überall. Dann kommst du da zum Beispiel als junger Mensch mit der Erstdiagnose hin und hast niemanden, mit dem du sprechen kannst. Wie man sich fühlt, so scheint es zumindest, ist da völlig uninteressant – Medikamente sind die Lösung und das war es. Das persönliche Sicherheitsgefühl wird dort überhaupt nicht gestärkt. Bei meiner Diagnosestellung 1999 war mein erster Impuls, mir das Leben zu nehmen. Ich stand in der 5. Etage am geöffneten Fenster, heulte wie verrückt und hatte mächtig Angst vor der Zukunft! Was sollte werden? Mein Schutzengel hatte einen Suizid per Fenstersprung Gott sei Dank nicht zugelassen.
In unserem Gesundheitssystem läuft so vieles schief
„Ambulant vor stationär“ – funktioniert vorne und hinten nicht! Hört sich ja zunächst einmal prima an, in der gewohnten Umgebung bleiben, nicht ins Heim brauchen. Bullshit! Pflegegrad hin oder her, selbst mit Pflegegrad 3 konnte ich in den letzten Wochen keinen Pflegedienst finden, der bereit war, mich so zu versorgen, wie es für mich nötig wäre. Ich hatte oft den Eindruck, dass man lieber Menschen als Kunden hat, die keine Ansprüche stellen. Jüngere Behinderte, die noch ihr eigenes Leben haben, aktiv sein möchten, Termine außer Haus wahrnehmen müssen und mehr Dinge noch können, stören, so scheint es mir, da eher den Ablauf. Individuelle Wünsche sind gar nicht machbar, weil das System so ist, wie es ist.
Überhaupt ist alles eher auf ältere Zielgruppen ausgerichtet. Altengerecht, Seniorenratgeber, nette „Omis“, die an einem Haltegriff stehen und freundlich in die Kamera lächeln. Das bin aber nicht ich! Ich stehe nicht, sondern sitze ohne guten Gleichgewichtssinn im Rollstuhl. Jüngere beeinträchtigte Personen, „fitte Behinderte“ fallen da durchs Raster, tauchen nirgends auf.
Ich möchte auch mal eine Lobby haben! Ich möchte als MS-Kranke nicht weiter unsichtbar sein! Ich möchte, dass die Politikmacher*innen erst mal nachdenken, bevor sie große Reden schwingen! Aber solange wir kranke oder behinderte Menschen einen Wirtschaftsfaktor darstellen und mit uns viel Geld verdient werden kann, sehe ich eher schwarz. Da geht es nicht um menschliche Würde oder Selbstbestimmung. Verdammt!
Also weiter wie bisher?
Ich musste also wieder mühsam alles privat organisieren. Die geplante Erhöhung auf Pflegegrad 4, Pflegedienst, Personen, die meine Assistenzstunden übernehmen, Wohnumfeldverbesserungen, weitere (hoffentlich) nützliche Hilfsmittel, und und und. Aber die Mühlen laufen so langsam, manchmal auch gar nicht. Als Alleinstehende habe ich auch keine Familie, keine Kinder und keinen Partner, die hier eben mal einspringen könnten. Und weil ich wenig Geld zur Verfügung habe, kann ich mir zusätzliche Leistungen eben auch nicht einfach so hinzukaufen.
Wenn ich dann noch an das Persönliche Budget denke, das ich im BP 2/19 beschrieben habe – bis heute wartet mein dafür extra eingerichtetes Konto auf die Erstattung der vom LVR bewilligten Gelder. Geld, das bei mir eigentlich monatlich seit März einzugehen hätte, und das ich dem Assistenzdienst nun quasi schulde! Auch darüber mache ich mir Gedanken – Baustelle um Baustelle… Für keinen wichtig zu sein, ausgeliefert und unsichtbar zu sein, so ein Gefühl macht sich da in mir breit.
Teilhaben trotz chronischer Krankheit
Dass ich als chronisch kranker Mensch immer noch so viele Hürden zu bewältigen habe, treibt mich um. Ich habe das Gefühl, einen Fulltimejob zu haben. Ätzend! Ich bin mürbe, kraftlos und desillusioniert. Dass mir abverlangt wird, meine Hilfsleistungen auch noch selbst zu koordinieren, finde ich extrem schwierig und eigentlich unmenschlich.
Eine konstante Hilfe in solchen Dingen ist die Person, die im Zuge des ambulanten betreuten Wohnens einmal die Woche Bürokratisches mit mir bewältigt. Reicht derzeit bei Weitem aber nicht aus. Die Bereitschaft zu helfen ist ja bei vielen da – aber an meiner Situation hat sich aktuell auch nach sechs Wochen nichts verbessert. Und meine private Pflegeperson ackert sich ‘nen Wolf, um mich, so gut wie es geht, liebevoll zu unterstützen.
Dabei will ich ja noch die Welt bewegen, etwas leisten, mitmischen, Input geben und bekommen. In der „nichtbehinderten“ Welt mit einer chronischen Krankheit bestehen zu können, sehe ich aber gerade völlig infrage gestellt, besonders wenn es um Aktivitäten geht, die ich früher gerne gemacht habe. Mein Trommeln, die Gemeindearbeit, Kino – all das habe ich für mich eingestellt, weil ich es im Moment nicht mehr alleine kann oder schlichtweg niemanden habe, der mich über längere Zeit abends begleitet. Ich funktioniere „nur“ tagsüber, das Vertrauen zu meinem Körper ist in den Abendstunden deutlichst reduziert. Ich muss da sehr vorsichtig sein, mit den wenigen Kräften haushalten und bei jeder Bewegung sehr konzentriert sein. Das ist Hochleistung und dazu bin ich am Ende des Tages nicht mehr in der Lage.
Das wünsche ich mir
Ich wünsche mir, dass man mit kranken Leuten in diesem Land selbstverständlicher und respektvoller umgeht, dass man für sie und mit ihnen ein Umfeld schafft, in dem unbürokratisch Hilfe geleistet wird und verlässliche Lösungen erarbeitet werden, die akute oder chronische Einschränkungen wirklich überbrücken helfen. Ein Umfeld, in dem man sich nicht schämen muss, um Hilfe zu bitten, sich nicht ständig wehren oder Anspruchsleistungen einklagen muss, sondern in dem man sich gegenseitig bereichert, auch in der Pflege oder Assistenz. Kurz, ich möchte Vertrauen in unser Gesundheitssystem und in all die politischen Zusagen haben können.
Ich wünsche mir, dass man Menschen wie mich in ihrem gewählten Lebensmodell unterstützt und ihnen dies zu jedem Zeitpunkt ermöglicht. Ich wünsche mir, dabei die Gewissheit zu haben, dass das Ziel immer, wirklich in jeder Situation, ist, eine Erleichterung, eine echte Linderung für den Menschen zu erreichen.
Ich wünsche mir deutlich mehr Verbindlichkeit von der gesellschaftspolitischen Seite, dass „ambulant vor stationär“ Wirklichkeit wird und kein bloßes Schlagwort bleibt. Unsere lieben Gesetzesmacher sollten erst einmal nachdenken, bevor irgendwas dahergeschwafelt wird! Wenn man die Möglichkeiten dazu nicht schafft, bleiben eben nur leere Worte.
Herzlichst Ihre
Petra Orben