Der Worteverkäufer
Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 04/2019
Vor vielen hundert Jahren lebte in einer Stadt irgendwo in einem heißen, trockenen und bergigen Land ein alter Mann, der Worte verkaufte.
Er hatte einen kleinen Laden inmitten der belebten Altstadt, der nur durch eine einzige Lampe erhellt wurde. Dort saß der alte Mann gewöhnlich auf Fußbodenkissen und wartete darauf, dass die Menschen zu ihm kamen.
Und sie kamen. Um Worte zu kaufen. Worte, die ihnen Trost spenden oder Rat geben sollten.
Der alte Mann bat die Menschen dann, auf dem Fußboden vor ihm Platz zu nehmen und ihm den Anlass ihres Kommens zu erläutern. Dieser unterschied sich zwar bei jedem, die Gründe dafür waren im Kern jedoch immer die gleichen: Ängste und Phantasien, Begehrlichkeiten und Leidenschaften, Bedürfnisse und Wünsche – ureigen und dennoch allen Menschen gemein.
Und so saß er da und hörte zu.
Denn um Worte verkaufen zu können, muss man sie zunächst einmal sammeln. Um sie sammeln zu können, muss man lernen, genau zuzuhören. Mit seinem ganzen Wesen zuzuhören.
Zunächst zuhören und dann sprechen.
Er war ein guter Zuhörer und deswegen kamen die Menschen zu ihm.
Nachdem sie ihm all das gesagt hatten, was sie schon immer hatten sagen wollen, warteten sie auf seine Worte.
Wenn er dann sprach, tat er es sanft und bedächtig, und wählte seine Worte mit großer Sorgfalt und Umsicht aus.
Er achtete dabei nicht so sehr darauf, was die Menschen zu ihm gesagt hatten, sondern wie sie es getan hatten. Oder was sie dabei vielleicht unerwähnt gelassen hatten.
Denn oftmals liegt in unserer Art, Fragen zu stellen, bereits die Antwort – ohne, dass sie uns bewusst wäre.
Der alte Mann gab nie eine direkte Antwort, sondern erzählte stattdessen immer eine Geschichte. Eine, die der Zuhörer mitnehmen und darüber nachdenken konnte. In dieser Geschichte gab es viele Dinge zu entdecken und zu verstehen – ob das aber letztlich passierte, lag allein am Zuhörer.
Bevor sie ihn verließen, legten sie ihm eine Münze oder auch zwei in eine Schüssel und gingen danach wieder ihrer Wege. Seine Worte begleiteten sie dabei – ganz so, wie sie ihre Worte bei ihm zurückgelassen hatten.
Wenn sie den alten Mann verließen, waren sie stets erleichtert, glücklich, oft sogar in ausgelassener Stimmung. Geheilt durch seine Worte – zumindest dachten sie das immer.
In Wahrheit jedoch waren es nicht die Worte des alten Mannes, die diese wundersame Verwandlung bei ihnen bewirken konnte. Es waren ihre eigenen.
Denn indem sie über ihre Ängste, Bedürfnisse, Hoffnungen und Wünsche reden, diesen Ausdruck verleihen und ihnen so einen Platz in der Welt einräumen konnten, hatten sie sich von der Last ihrer Sorgen selbst befreit. Ihre Zweifel hatten sich im Gespräch mit dem alten Mann zwar aufgelöst – der ihm folgende Sinneswandel kam aber aus ihrem Inneren.
Durch das Aussprechen ihrer Probleme hatten sie sich selbst gestärkt. Der alte Mann hatte ihnen einfach nur zugehört und es ihnen so ermöglicht, gehört zu werden.
Jeder hat Geschichten, die erzählt werden wollen. Den größten Schmerz aber verursacht es wohl, eine Geschichte zu haben, die man nicht erzählen kann.