Der Tanz
Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 04/2021
Ein junger Mann saß auf einem Hügel am Rand eines Kieselstrands, über den das Wasser sanft hinwegschwappte.
An dieser Stelle strömte auch der Fluss ins Meer, und der Mann beobachtete das Spiel der aufeinandertreffenden Wellen. Mit der kommenden Flut würde die Flussmündung wie immer zu einem Teil des Meeres werden.
Von Zeit zu Zeit wandte er seinen Blick flussaufwärts, der Stadt zu. Er wusste, dass sie diesen einsamen Ort, an dem sie vor neugierigen Blicken geschützt war, immer erst kurz vor der Flut aufsuchte – ganz so, als hätte sie mit dem Meer im stillen Einvernehmen geheime Verabredungen getroffen, denen sie nachkam.
Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, denn heute wollte er ihr endlich sagen, dass er sie liebte.
Dann war sie da und sie war hinreißend – so atemberaubend schön und grazil, dass ihn auf der Stelle der Mut verließ und er sich schnell hinter einem Gebüsch versteckte. Langsam stieg sie aus dem Fluss, balancierte etwas unbeholfen auf den nassen Steinen und hatte schließlich das sichere Ufer erreicht. Sie drehte sich um, stand für eine Weile still und beobachtete die Wellen. Dann schüttelte sie sich kräftig und warf mit einem Ruck ihr Gefieder ab.
Nur einen Hauch davon entfernt beobachtete der junge Mann durch das Gebüsch, wie diese wunderschöne junge Frau ihr makelloses Gesicht, ihre wie durchsichtig erscheinende Haut der Sonne zuwandte, und wie sie die Stimme erhob, um mit dem Wind zu singen. Ihre Worte, für ihn unverständlich, waren von zeitloser Schönheit und Poesie. Jetzt begann sie im Einklang mit dem Rhythmus des Wassers zu tanzen, und ihre Haare, so dunkel wie die Schatten der Berge hinter der Bucht, fächerten sich dabei auf wie Flügel im Wind.
Der junge Mann stand wie verzaubert.
Jetzt war er also gekommen, der Moment des Handelns. Ihr Gefieder lag in Reichweite, und er konnte, so wie er es sich unzählige Male vorgestellt hatte, aus dem Gebüsch springen und es rasch an sich nehmen – und sie würde ihm gehören, nur noch ihm.
Und doch hielt er inne, denn ihm kamen plötzlich die Geschichten in den Sinn, die man sich im Dorf über Wesen erzählte, die zwischen den Welten wandern konnten, und die in einer Welt verblieben waren – nicht aus Liebe, sondern weil man ihnen die Möglichkeit zur Rückkehr genommen hatte. Sobald es ihm gelang, ihr Gefieder an sich zu nehmen und zu verstecken, würde sie sich nie wieder verwandeln und zu ihrer ursprünglichen Gestalt zurückkehren können. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass diese Macht über das Schicksal eines anderen zu nichts Gutem führen konnte – wie ein dunkles Geheimnis, das man nicht für sich behalten kann oder ein Diamant, der zu schön ist, um ihn für immer vor anderen zu verstecken. Diese Geschichten, so wurde ihm nun klar, bargen mehr Wahrheit als ihm lieb sein durfte, und sie fanden für gewöhnlich kein gutes Ende.
Während er das Gewicht verlagerte, um aufzustehen, brach neben ihm plötzlich ein Ast ab. Sofort hörte sie auf zu tanzen und drehte sich zu ihm. Jetzt stand er zwischen ihr und dem Gefieder, und sie konnte seine Pläne erahnen, sah aber auch die Liebe in seinen Augen.
Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen – dann hatte sie sich entschieden. Sie begann wieder zu tanzen, kam auf ihn zu, nahm seine Hand und führte ihn in ihre Welt. Das Wasser wirbelte jetzt zu ihren Füßen, Vögel stimmten ein und er sah grün schimmernde Berge in einer strahlenden Sonne. Sie waren umgeben von anderen Tänzern, so wunderschön wie sie, und er wunderte sich, dass ihm diese vorher noch nie aufgefallen waren.
Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und öffnete die Augen erst wieder, als er ihre Hand nicht mehr in der seinen spürte. Die Flut war auf dem Rückzug und er sah sie, den Schwan, der sich vom Ufer abstieß und wieder in den Strom hineinglitt. Als sie außer Sichtweite war, fiel sein Blick auf eine einzelne Feder am Boden, die er von nun an immer bei sich trug.