Der Fluss
Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 02/2024
Jeden Morgen, sobald es hell wurde, fand sich der Maler am Flussufer ein, baute seinen Klapphocker und die Staffelei auf, legte sich seine Pinsel zurecht und begann zu arbeiten.
Seine Hände flogen förmlich über das Papier, um die Energie und die Bewegung des Wassers einzufangen. Mit jedem Pinselstrich hinterließ er wilde Linien auf der Leinwand, die er mit weißen Punkten versah, die das Spiel der Sonnenstrahlen auf den Wellen symbolisieren sollten – eine Bewegung, die ihm wesentlich für sein Motiv erschien. Das Flussufer malte er in trüben Grün- und Brauntönen und arbeitete aus deren Schatten durch stärkere, nach oben gerichtete Striche das Schilfgras mit seinen blassen grauen Ähren heraus. Das Land hinter dem Fluss und seinem Ufer bildete er nur vage in leichten Grüntönen ab, den wolkenlosen Himmel darüber malte er dagegen in einem klaren strahlenden Blau.
So oder so ähnlich malte er den Fluss jeden Tag aufs Neue und wenn er abends ins Dorf zurückkehrte, hatte sich so manches Mal ein Käufer gefunden, der etwas Geld in eine Kasse gelegt hatte, die der Maler zusammen mit seinen Werken vor seinem Haus aufgestellt hatte. Im Großen und Ganzen war er zufrieden mit seinen Verkäufen und dem Leben, das ihm dadurch möglich war.
Doch dann traf er den alten Bootsmann.
Eines Morgens im Frühling fand der Künstler an seinem angestammten Platz einen kleinen hölzernen Zweimaster vor, der an einem Baumstumpf festgemacht hatte. Verärgert stellte er seinen Hocker auf und setzte sich. Das Boot, das sich sanft in der Strömung bewegte, befand sich direkt in seinem Sichtfeld, machte es ihm zum ersten Mal unmöglich, den Fluss zu sehen und stellte somit eine unerfreuliche Störung seiner Malroutine dar.
Wo war denn nun die Person, die für diese Störung verantwortlich war? Er ging zum Boot hinunter, um den Besitzer zu bitten, etwas weiter unten am Fluss festzumachen, aber es war niemand zu sehen. Er versuchte, trotzdem weiter zu malen, aber es wollte ihm nicht richtig gelingen.
„In deinem Bild ist ein Fluss zu sehen,“ ertönte eine fremde Stimme hinter ihm.
„Ich male den Fluss, ja”, entgegnete der Maler.
„Ich sehe nicht, dass du einen Fluss malst, sondern nur, dass sich in deinem Gemälde ein Fluss befindet.“
Der Maler sagte nichts dazu und hoffte, dass der Fremde es ihm gleichtat. Mitnichten!
„Siehst du die Wellen auf der Wasseroberfläche?”
„Natürlich sehe ich sie.“
„Sie gehen tiefer, als du sehen kannst. Kannst du sie denn hören?”
„Nein, das kann ich nicht.“
„Versuche es wenigstens, höre genau hin – denn sie sind die Stimmen des Frühlings. Sie erzählen dir Geschichten aus den Bergen und von den Geheimnissen des Winters. Sie solltest du in das Zentrum deines Gemäldes stellen.“ Sprachs und war verschwunden.
Am nächsten Tag fand der Maler das Boot noch am selben Platz vor und beschloss, sich einen neuen Platz zum Malen zu suchen. Bereits beim Skizzieren kam er allerdings durcheinander, weil sich die Perspektive geändert hatte. Trotzdem machte er weiter und hatte sich bald an die neue Realität gewöhnt. Mit dem Perspektivwechsel kam auch eine neue Arbeitsgeschwindigkeit, durch die er langsamer und aufmerksamer hinsah.
Nun bewegte der Bootsmann das Boot ein Stück und blockierte damit die Aussicht aufs Neue, worauf der Maler sich gezwungen sah, wieder einen anderen Platz zum Arbeiten zu suchen. Jetzt sah er weniger vom Fluss, bemerkte aber, dass sich dieser flussaufwärts in einer Schleife wand und das Wasser dort langsamer floss und anders aussah.
Wenn der Bootsmann sein Boot von nun an bewegte, bewegte sich der Maler interessiert mit. Wurden ab und an auch die Segel gehisst, sah der Maler noch weniger vom Fluss. So entwickelte sich fast eine Art Tanz, ein Gegenspiel zwischen den beiden, das sich über Wochen hinzog.
Eines Tages fielen ihm Hügel hinter dem Fluss auf und er konnte in der Ferne auch einen Berg ausmachen.
„Siehst du den Berg in der Ferne?“
„Ja, ich sehe ihn.“
„Siehst du die Wolken um seine Schultern, den Schnee, der seinen Gipfel bedeckt?“
„Ja, das sehe ich.“
„Dann siehst du auch, dass der Berg sich in den unendlichen Weiten des Ozeans badet?“
„Das sehe ich.“
„Wenn der Schnee auf diesem Berg schmilzt, füllt sich der Fluss. So bringt der Berg die Kraft des Wassers hervor. Also, sage mir, soll es in deinem Gemälde einen Fluss geben oder willst du den Fluss malen?“
Der Maler blieb eine Antwort schuldig.
Eines Tages war der Bootsmann weitergezogen.
Nach den vielen unterschiedlichen Stellen entlang des Flusses kehrte der Maler zu seinem ursprünglichen Platz zurück. Von hier aus konnte er die Flussschleife, die Hügel oder den Berg nicht mehr sehen.
Aber er hatte gelernt, auf das Geräusch der Wellen zu hören.