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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Das Samenkorn

Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 04/2020

Die schnatternden Rufe unzähliger Vögel durchbrachen die scheinbar endlose Stille der Nacht.

Am Himmel zeigten sich langsam erste honigfarbene Streifen, die die Ankunft der Sonne ankündigten.

Auf dem Dach eines Hauses, in dem ein Dichter lebte, saß einer dieser Vögel und wartete – nicht etwa auf die Sonne, sondern auf den Wind.

Dieser hatte die schneebedeckten Gipfel der Berge hinter sich gelassen, die Baumwipfel der Wälder gestreift und wanderte nun gemächlich über die Stadt – vorbei am Brunnen, an dem die Frauen bereits das Wasser für den Tag schöpften. Eine frische Brise zog durch die schmalen Gassen, in Häuser und kleine Geschäfte, befreite die feilgebotenen Waren im Basar vom Staub und ließ die gestickten seidigen Blumen der Vorhänge im Palast des Sultans tanzen. Der Wind machte hier gewöhnlich keinen Unterschied.

In seinem Schnabel hielt der Vogel ein einzelnes Samenkorn.

Als der Wind den Vogel bemerkte, hielt er inne und vergaß für einen Moment, dass das nächste Ziel auf seiner Reise eigentlich jenseits der Stadtmauern liegen sollte.

Der Vogel hielt seinen Kopf in den aufkommenden Wind, nahm das Samenkorn in eine seiner Klauen und flog los.

„Nimm mich mit dir,“ bat er den Wind.

„Weißt du denn, wohin ich gehe?“, fragte dieser.

„Das weiß ich nicht“, antwortete der Vogel.

„Warum fragst du mich dann, ob ich dich mitnehme?“, wollte der Wind wissen.

„Ich muss dieses Samenkorn hier aussäen, und ich weiß genau, dass es dafür einen geeigneteren Platz gibt“, erwiderte der Vogel.

„Und woher weißt du, dass ich dich zum richtigen Platz bringen werde?“, fragte der Wind.

„Ich vertraue dir.“

Mit dem Vogel auf seinen Schultern drehte sich der Wind zur Stadtmauer, und gemeinsam zogen sie über die angrenzende Wüste, wo der Wind seinen eisigen Mantel ablegte und sich langsam erwärmte.

Mit halb geschlossenen Augen fand der Vogel einen Aufwind, und so glitten sie durch die Lüfte. Unter ihnen wirbelte der Sand auf, sobald sie vorüberzogen.

„Was für ein Samenkorn ist das überhaupt?“, fragte der Wind.

„Das weiß ich nicht“, antwortete der Vogel.

„Und woher kommt es?“, wollte der Wind wissen.

„Auch das weiß ich nicht.“

„Aber wer es dir gegeben hat, das weißt du schon?“, fragte der Wind erneut.

„Nein, auch das weiß ich nicht.“

Der Wind, der Vogel und das Samenkorn erreichten schließlich eine trostlose Einöde, in der sich nichts mehr regte.

„Hier.“

Weich landete der Vogel auf der staubigen Erde und legte das Samenkorn sorgsam hinein.

Der Wind war weder gewillt noch in der Lage, an diesem Ort zu verweilen, und setzte seine Reise mit einem Seufzen fort, das nur der Vogel wahrzunehmen schien.

Dieser kauerte sich auf die Erde und schlief schließlich ein.

Doch der Wind vergisst nie etwas. Immer und immer wieder zog er an der Stelle vorbei, an der der Vogel mit dem Samenkorn ausharrte, und oft brachte er den Regen mit.

Als er eines Tages zu den beiden zurückkehrte, bewegten sich dort die zarten Blätter eines kleinen Baumes, der Vogel aber blieb reglos. Es war, als wäre das Leben von einem auf den anderen übergegangen.
Denn auch die Zeit steht nicht still. Und während der Wind eines Tages erneut durch und über die Zweige des wunderschönen jungen Baumes strich, sah er auf einem Ast einen kleinen braunen Vogel sitzen.
In seinem Schnabel hielt er ein Samenkorn.