Der Flug der Freiheit
Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 03/2024
Das kleine Geschäft befand sich am Ende einer Straße, in der sonst niemand mehr wohnte. Die anderen Häuser waren alle heruntergekommen und baufällig, ihre Besitzer längst verstorben und deren Nachkommen hatte es in die weit entfernten Städte gezogen.
In diesem Geschäft lebte und arbeitete ein älterer Mann. Er hatte einen starken und für diesen Teil der Welt seltsamen Akzent. Nur wenige kannten seinen Namen, und die, die ihn kannten, konnten ihn nicht richtig aussprechen. Wieder andere nannten ihn einfach „den Uhrmacher“, denn das war es, was er tat.
Sowohl das Handwerk als auch den Akzent hatte er einst von seinem Vater geerbt, der nach seiner Flucht vor einem endlosen Krieg auf dem Land nach Ruhe gesucht und sie hier im Dorf auch gefunden hatte. So geschickt war der Sohn, dass er auch nach des Vaters Tod gut von seiner Tätigkeit leben konnte. Er hatte dazu etwas ganz Besonderes entwickelt – mechanische Schmetterlinge, die fliegen konnten.
Damit sie so realistisch wie möglich wurden, wählte er seine Materialien immer sehr sorgfältig aus. Die Flügel waren aus Seide, mit hauchdünnen Silberfäden geformt und am Körper befestigt. Er tupfte zerstoßene Pastellfarben darauf und benetzte sie dann mit Milch und Eigelb, damit sie fest wurden. Der Körper, der ein winziges mechanisches Wunderwerk zum Aufziehen enthielt, war aus Eichhörnchenhaaren gemacht. Die Beine kamen von getrockneten Käfern und die Fühler waren Schnurrbarthaare von einem toten Hasen. Ihm war es überaus wichtig, die Schmetterlinge so zu gestalten, dass er seinen Besuchern erzählen konnte, sie seien besser als echte Schmetterlinge – und das gelang ihm auch in den meisten Fällen. Seine Besucher hielten den Uhrmacher regelrecht für ein Genie und gingen in dem Glauben nach Hause, dass die Welt mehr von diesen Wundern brauchte.
Seine Kreaturen standen nicht zum Verkauf und kamen lediglich im Rahmen von Vorführungen zum Einsatz, um bei den Besuchern letzte Zweifel an deren Echtheit zu zerstreuen. Diesen künstlichen Kreaturen gehöre die Zukunft, so betonte er immer wieder – tatsächlich dienten sie ihm aber einzig und allein dazu, die Menschen in seinen Laden zu locken und dadurch den Verkauf seiner Uhren zu fördern.
Es war Frühsommer, als das Mädchen zum ersten Mal den Laden aufsuchte. Zunächst spähte sie nur schüchtern über das Fensterbrett, um die Flugvorführungen heimlich zu beobachten. Das Aufblitzen der Farben, wenn die Schmetterlinge ihre Kreise zogen, erfüllte sie mit Staunen und Freude. Sie waren wie die schönen bunten Blumen, die den Garten ihrer Träume füllten. Und so betrat sie eines Tages schließlich den Laden.
Sie stand hinter dem Rücken eines interessierten Paares und hörte zu, wie der Uhrmacher gerade erzählte, dass Schmetterlinge in den kalten Monaten in der Scheune überwinterten und dann, wenn die Tage wärmer wurden, in die Welt hinausflogen. Seine charismatischen Worte glichen einer Melodie, die wundersame Bilder in ihrem Kopf entstehen ließ. Dann holte er aus einer Holzkiste weitere Schmetterlinge, die sich unter dem Beifall der Zuschauer in die Luft erhoben – und um das Mädchen war es geschehen.
Von nun an ging sie öfters in den Laden und wurde immer mutiger, bis sie sich eines Tages mit den Schmetterlingen und ihrem Schöpfer allein im Laden wiederfand, der seine Kreaturen gerade einpackte, indem er sie wie Früchte aus der Luft pflückte. Das Mädchen war ihm schon früher aufgefallen und als sie ihn nun fragte, ob die Schmetterlinge denn echt seien, da konnte er nicht anders.
„Aber natürlich“, antwortete er, „so echt wie die Nase in deinem Gesicht.“ Und sie glaubte ihm aufs Wort.
Eines Nachmittags stand sie inmitten einer großen Menschenmenge wieder in dem Geschäft. Der Uhrmacher war gerade in Hochform, wie ein Zirkusdirektor, und forderte alle auf zu beweisen, dass die Schmetterlinge nicht echt waren. Niemand tat es. Alle waren wie in Trance und ließen sich von seinen Ausführungen mitreißen.
Einen Moment abgelenkt, bemerkte das Mädchen eine Blumenverkäuferin, die gerade durch das geöffnete Fenster in den Laden hineinsah. Ein Schwalbenschwanz schwebte zielstrebig um ihre Blüten herum. Das Mädchen stieß das Fenster ganz auf und beobachtete, ob und wie die Schmetterlinge im Laden wohl auf die Anwesenheit ihres Artgenossen und die mögliche Freiheit reagieren würden.
Es gab keine Reaktion. Sie blieben, wo sie waren, im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten.
Der Bann war gebrochen, die Lüge erkannt. Sie ging hinaus und folgte der Blumenverkäuferin in die Stadt.