Der Wolkenwächter
Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 04/2024
Eine Wolke muss sich verwandeln, um zu Regen zu werden.
Das Wetter war zu schön, um zu arbeiten. Die Morgensonne war ein sanfter Begleiter gewesen und hatte ihm den Rücken gewärmt, während er die Erde seines Gemüsegartens aufgelockert hatte. Jetzt streckte er sich, um die Schmerzen in den Schultern zu lindern und sah, dass die Wolken mittlerweile vom Tal zum Gipfel des Berges aufgestiegen waren.
Er beschloss, sie zu begrüßen. Das Pflügen des Bodens konnte noch ein oder zwei Tage warten. Den verborgenen Pfad am Fuß einer alten Apfelplantage kannte nur er, und er kannte ihn gut. Er machte sich auf den Weg und lief – den Wolken entgegen.
Es war Frühling. Die ersten Laubbäume begannen zu sprießen und entledigten sich der klebrigen Knospenhüllen, die sie vor dem späten Frost geschützt hatten. Sie erfüllten das Tal mit einem süßen Duft, einem Parfüm, das nur die Natur zu erschaffen vermag. Er folgte dem Pfad, der sich nun zwischen zwei dichten, niedrigen Hecken hindurchschlängelte, immer begleitet vom sanften Plätschern eines kalten, klaren Baches.
Nach etwa einer Stunde führte ihn der Weg auf eine Lichtung, wo er von der weiten, offenen Landschaft des oberen Tals mit so leuchtenden und lebendigen Farben begrüßt wurde, als wäre sie Teil eines Bildes, das soeben erst für ihn gemalt worden war. An einer Biegung, an der ein anspruchsvollerer Abschnitt des Weges begann, hielt er kurz an, um zurückzuschauen. Weit unter ihm konnte er jetzt auch die kleine Stadt sehen, für die er so wichtig gewesen war. Aber das war vorbei.
In der Vergangenheit war es ihm ein Anliegen gewesen, nach seiner morgendlichen Meditation mit den Wolken und ein oder zwei Stunden Gartenarbeit hinunter in diese Stadt zu gehen und einen Großteil des Nachmittags auf dem Marktplatz zu verbringen. Gern hatte er es sich hier auf einem alten Baumstumpf bequem gemacht und versucht, die Geschichten und Anliegen derer zu erraten, die hier vorbeigekommen waren. Man mochte ihn und unterhielt sich gerne mit ihm, obwohl er als unnahbar galt: der harmlose Einsiedler aus den Bergen. Nachdem er jemandem einmal arglos erzählt hatte, dass er mit den Wolken lebte und mit ihnen sprach, hatten sie ihm den Namen Wolkenwächter gegeben. Das gefiel ihm.
So hatte er den Leuten auch erklärt, dass jede Wolke ihre eigene Form, eine Gestalt besaß, die deutlich zu erkennen war und damit begonnen, Geschichten über die Tiere zu erzählen, denen die Wolken ähnelten. Hatten ihm zunächst nur die Kinder dabei zugehört, waren ihnen nach kurzer Zeit ihre Mütter und bald auch ihre Väter auf den Marktplatz gefolgt, die sich von der Deutung der Wolkenformen Antworten auf ihre drängenden Fragen erhofft hatten. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf, da trotz seines vehementen Einspruchs bald alle davon überzeugt waren, er sei in der Lage, ihre Probleme zu lösen.
So war etwa ein aufgeregter Schafhirte, der einen Wolf in den Hügeln gehört und gleichzeitig eine Wolke in derselben Form am Himmel gesehen hatte, zum Wolkenwächter gekommen und hatte ihn gebeten, der Wolke mitzuteilen, dass sie verschwinden oder sich zumindest in etwas Nützlicheres wie einen fruchtbaren Schafbock verwandeln solle. Zum Schein war der Wolkenwächter darauf eingegangen – und als der Wolf in den Hügeln dann schließlich verstummt war, erschienen seine Fähigkeiten umso wertvoller. Das war erst recht der Fall, als eine große Dürre damit geendet hatte, dass am leeren Himmel eine einzige Wolke aufgezogen war, deren Form dem Gesicht des Wolkenwächters stark ähnelte.
An einem unbeständigen Morgen einige Monate nach dieser Dürre war am Rande der üblichen Versammlung aufgeregter Städter auf dem Marktplatz ein ganz in Grau gekleideter blasser Mann mit einem schäbigen Hut aufgetaucht. Seine spindeldürren Finger hatten ein zerfleddertes Buch an seine Brust gedrückt und nervös hin- und hergedreht, während er mit unruhigen Augen den Wolkenwächter taxierte, der mit seiner Geschichte wie üblich die Zuhörer verzauberte.
Nach einer Weile hatte der Mann in Grau wie ein Kranich auf dem Feld ein Bein angehoben, das Buch auf seinen Oberschenkel gelegt und eifrig hineingeschrieben. Nachdem die Menge sich auf den Heimweg gemacht hatte, wurde der Wolkenwächter aufgefordert, näherzutreten.
Kurz angebunden hatte der Mann in Grau erfragt, was und wie viel er über die Wolken wisse. Eher amüsiert, als wäre das Ganze ein Spiel, hatte er geantwortet, dass die Wolken im Tal neben seinem Haus schliefen und einige von ihnen seinen Garten bewässerten. Nun hatte der Mann in Grau Zahlen hören wollen. Wie viele Wolken besaß er genau? Wie oft ließ er sie heraus? Und wie konnte er mit seinen Wolken gar Menschen informieren und beraten und damit Aufgaben übernehmen, die den Behörden vorbehalten waren? Jede Antwort wurde von einem höhnischen Blick begleitet und auf die fettigen Seiten seines abgenutzten Buches gebannt.
Schließlich hatte sich der Mann in Grau, nun wieder auf zwei Beinen, mit einem tadelnden Zischen vom Marktplatz entfernt, um bereits am nächsten Tag mit einem großen Umschlag wiederzukommen. Darin befanden sich Anweisungen, mittels mitgelieferter Diagramme und Tabellen fortan genaue Aufzeichnungen über die Zahl und den Aufenthaltsort seiner Wolken zu führen, seine Tätigkeit als Wolkenhüter beim Gemeindeamt zu registrieren und für jede einzelne Wolke, die er behielt, eine Steuer zu zahlen, da er sie sowohl als Hüter als auch als Wahrsager unrechtmäßig genutzt hatte.
Die Morgensonne war zur Nachmittagssonne geworden und der Hügel zum Berg. Die Bäume konnte er jetzt unter sich sehen und schon die ersten Schleier einer kleinen Wolke fühlen, die, aus der Nähe betrachtet, wie die kleinen Flaumfedern auf der Brust eines jungen Adlers aussahen. Als er sich ihr weiter näherte, stieg die Wolke, wie der junge Adler, den er sich vorstellte, in den Himmel auf und nahm die Gedanken des Wolkenwächters mit sich.