Klugheit geht über Stärke
Christian Wingrove-Rogers, Blickpunkt-Ausgabe 03/2021
Nach einer alten Sufi-Geschichte beschlossen die Vögel eines Tages, unter ihnen einen König zu wählen.
Geeignet erschien ihnen derjenige, der zum höchsten Punkt am Himmel fliegen konnte. Nur der Adler mit seinen starken Flügeln und der großen Flügelspannweite war dazu in der Lage und ließ wie erwartet alle hinter sich – alle, bis auf den kleinen Zaunkönig, der dazu allerdings zu einer List greifen musste. Er versteckte sich in den Federn des Adlers und flog just in dem Moment nach oben, als dieser am Zenit angelangt war. So musste der Adler vor den versammelten Vögeln schließlich zugeben, dass der Zaunkönig höher geflogen war als er.
Diese Geschichte hatte Legendencharakter in der Vogelgemeinschaft und rief angesichts der erlittenen Schmach bei den nachfolgenden Adler-Generationen Rachegelüste auf den Plan.
Das traf auch auf einen bestimmten Seeadler zu, der auf einer Insel am Rande der Welt lebte, wo das Meer nur so vor Fischen wimmelte. Es war ein beliebter Futterplatz, und so tummelten sich auch viele andere Vögel hier; ihr Geschrei und Geschnatter ging dem Seeadler allerdings gehörig auf die Nerven.
Für gewöhnlich saß er deshalb etwas abseits auf einer alten Mole, um dem endlosen Kreischen der Möwen, dem Gestank der Kormorane oder dem durchdringenden Blick des Graureihers zu entgehen, den er aufgrund seiner deutlich besseren Fischfangqualitäten besonders verabscheute.
Wenn ihn die Ungeduld packte, flog er gerne über die Insel, um allen zu zeigen, wie stark und gefährlich er sein konnte. Niemand sollte es wagen, ihn zu ignorieren. An Tagen, an denen sich die Fische in die Tiefen des Meeres zurückzogen, fraß er auch schon einmal den ein oder anderen Vogel. Stare zum Beispiel konnten ihm kaum entkommen, schmeckten ihm allerdings auch nicht besonders. Die schnellen Seeschwalben dagegen entzogen sich ihm stets, und die Hausschwalben, die im alten Leuchtturm nisteten, hatten kaum mehr ein müdes Lächeln für ihn übrig, so unbeholfen waren seine Versuche, sie zu fangen. Allein die Enten und Gänse waren leichte Beute für ihn und über die Jahre deshalb seltener geworden auf dieser Insel am Rande der Welt.
Eines Tages erspähte der Seeadler einen Zaunkönig, der unbefangen an ihm vorbeihüpfte. Sofort erinnerte er sich an die Geschichte seiner Vorfahren und sah seine Chance gekommen.
Als er sich auf den Zaunkönig stürzen wollte, hörte er den kleinen Vogel sprechen.
„Hast du etwa vergessen, dass ich am Anbeginn der Zeit zum König der Vögel gewählt wurde?“
„Diese Geschichte ist mir bekannt, aber es ist eben auch nicht mehr als das. In Wirklichkeit habe ich die Kraft und du hast sie nicht.“
„Und warum fürchten sich dann alle anderen Vögel auf der Insel vor mir?“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Wenn ich auf sie zufliege, streben sie in alle Richtungen“. Sie haben Angst vor mir, weil ich der König bin. Mein Wille ist Gesetz.“
„Also, das scheint mir nur eine weitere Geschichte zu sein, nichts mehr.“
„Nein, Seeadler, ich werde dir zeigen, wie die Vögel mich fürchten. Ich werde entlang dieser Mole über die Insel fliegen, und wenn du neben mir bleibst, wirst du genau sehen, was dann geschieht. Aber halte den Abstand zu mir, der einem König gebührt.“
Der Seeadler willigte ein. Voll diebischer Vorfreude hob der Zaunkönig ab und kreiste über einer großen Gruppe Kormorane, die ihre Flügel gerade in der Sonne trockneten und den Möwen, die sich in gewohnter Weise zankten. Keiner von ihnen beachtete den kleinen Vogel am Himmel, der, clever wie er nun einmal war, im Schatten des Seeadlers flog. Ein Schatten, der den Vögeln gut bekannt war, und der sie aufscheuchte und das Weite suchen ließ.
Als der Zaunkönig schließlich landete, plusterte er sich auf und sagte zum Seeadler: „Siehst du nun, wie groß ihre Angst vor mir ist?“
Von diesem Tag an hatte der Zaunkönig zwei Geschichten zu erzählen, und der Seeadler suchte sich bald einen neuen Platz, um keine von ihnen mehr hören zu müssen.