Zum Hauptinhalt springen

Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Fünf Monate Sri Lanka: Fünf Monate Sri Lanka

Susanne Oehler, Blickpunkt-Ausgabe 03/2018

In meiner fünfmonatigen Zeit in Sri Lanka, wo ich eine Ayurvedakur machte, wuchs in mir immer mehr der Wunsch zu teilen. Teilen, was ich sehr lange Zeit für mich behalten habe. Ich möchte euch etwas davon abgeben, euch mitteilen, was mir wichtig ist. Ich bitte euch darum, wertfrei und unvoreingenommen zu sein und euch auf das einzulassen, was kommt. Ich bin mir meiner Gedanken, Gefühle und Handlungen in diesen fünf Monaten sehr klar geworden. Die Realität ist nur ein Spiegel, eine Projektion unserer Innenwelt. Mir wurde bewusst, dass ich die Realität nur dann verstehen kann, wenn ich mich selber verstehe und mich ändere.

Sich seiner selbst und des Umfeldes bewusst sein

Mir meiner selbst bewusst zu sein, ab diesem Zeitpunkt mich zu beobachten, die entsprechende Situation anzuschauen, wahrzunehmen und präsent zu sein. Und dies ohne jegliche Wertung. Kurz gesagt: zu akzeptieren und anzunehmen. Das, was ist, ist.
Mir wurde Tag für Tag klarer, dass ich ergründen musste, warum ich jahrelang nach mechanischen Mustern, „un-bewussten“ Reaktionen gelebt und funktioniert habe, die schlussendlich (fast) ausschließlich zu Erfahrungen von Leid und Enttäuschungen geführt haben. Am Ende stand die Erkenntnis, dass genau diese negativen Erfahrungen das Ergebnis von Nicht-Bewusstsein waren. Meine Leiden als negative Gefühle hatten demnach plötzlich keinen Platz mehr und konnten durch bewusstes Annehmen transformiert werden.
Oftmals fühlen wir uns in der Leidens-Situation der Verzweiflung nahe. Sinnfragen tauchen auf, Selbstmitleid hält Einzug. Der physische Schmerz dominiert alles und lässt das Leid weiterwachsen. Bestimmte Momente und Situationen meine ich dann nicht mehr verändern zu können.

Wie es mir gelang, in Sri Lanka das (Eins-)Sein zu üben

„Eins mit dem Leben zu sein, heißt, eins mit dem Jetzt zu sein“ (Eckart Tolle, „Eine neue Erde“). Einmal nur drei Minuten lang bewusst zu atmen, nur auf den Atem achten, dem Fluss des Atmens nachzuspüren. Dies reicht schon, um ganz präsent zu sein, sodass kein Raum für andere Gedanken ist. Durch das Wahrnehmen und Erkennen meiner für mich bis dahin unbewussten Verhaltensweisen, meiner emotionalen Reaktionen, meiner Niedergeschlagenheit und Traurigkeit, meines Ärgers und meiner Wut über das, was ich nicht mehr leisten kann, konnte ich ein Umdenken herbeiführen. So kam ich in das bewusste und dadurch effektive Handeln.
Durch das Teilen meiner Gedanken mit anderen entstand in mir ein großes Wachstum. Es wurden Kräfte freigesetzt, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ich traue mich, Dinge zu tun, die ich mir früher nicht zugetraut hätte. Indem ich in die Handlung gehe, verändere ich meine „Starrheit“, verlasse meine Bequemlichkeit, meine Komfortzone, die mir nur vermeintlich Halt und Sicherheit gegeben hat. Aber indem ich aktiv handele, öffne ich mich für Neues, habe ich die Möglichkeit, meinem Leben, so wie es jetzt ist, Sinn, Perspektive und Inhalt zu geben.

Dem Neuen eine Chance geben

Bei mir war das folgendermaßen: Im Laufe meines Lebens habe ich mich eingerichtet, es mir bequem gemacht. Meine Grunderkrankung befeuerte das Ganze noch. Ich hielt an dem fest, was ich noch konnte. Irgendwann saß ich im Rollstuhl und sagte mir: „Ich kann eh nichts mehr ändern. Es wird nun doch alles immer schlechter werden.“ Es war leichter für mich, passiv zu verharren und schlechte Gedanken zu haben, die ich immerzu weiter nährte anstatt mich zu bewegen. Aber: Gerade, wenn ich mich physisch nicht mehr so bewegen kann, heißt das doch noch lange nicht, dass ich mich innerlich wenig bewegen könnte. Indem ich nur ein wenig an der Starrheit und meiner Komfortzone drehe und ein Umdenken herbeiführe, verändert sich etwas in mir. Wenn ich handele, wachse ich und dann passiert etwas: Ich gebe dem Neuen eine Chance und Platz, dadurch, dass ich das Vergangene und für mich Bewährte loslasse. Für mich bedeutete dies, meinen „Mini-Stress“ loszulassen, der sich oft nur schwer erkennbar zeigte, jedoch meinen Körper gehörig durcheinanderbrachte. Erst als ich die Ursache und Wirkung erkannt hatte, konnte ich ihn loslassen und Platz für die Gelassenheit machen.

„Geht nicht“ gibt es nicht?

Ich neige dazu, wenn etwas bei mir nicht mehr so funktioniert wie einst, ganz schnell zu sagen: „ich kann es nicht mehr“ oder „es geht nicht“ und dann macht sich Niedergeschlagenheit und Frust breit. Mein Feldenkrais-Seminarleiter sagte einmal in einem Seminar, als einige Teilnehmer meinten, dass sie die Übung nicht mehr ausführen könnten: „Geht nicht gibt es nicht.“ Es ist aber nur zum Teil wahr und erst nachdem ich meine Haltung zu mir verändert hatte, konnte ich voranschreiten.
In Sri Lanka habe ich erfahren, wie es sich anfühlt, wenn mein Körper nicht mehr dem folgen kann, was mein Kopf gerne möchte. Die ansteigende Hitze paralysierte meinen Körper immer mehr. Die Beine wurden schwer wie Blei. Die Schwäche in mir wurde zu einem großen Bestandteil des Tages und so sehr ich es mir anders wünschte, war ich in den letzten Wochen meines Aufenthaltes lahm. Bei all meinem Tun und Handeln sah ich nur sofort auf das, was ich nicht mehr konnte.
Hierbei wäre es doch schön, sich einfach zu sagen: „Ich kann es gerade jetzt schlechter, jedoch sicherlich nach einer Weile wieder besser. Ich versuche es, anstatt zu denken, dass es doch sofort jetzt klappen muss.“ Ich stellte mir immer und immer wieder vor, wie ich meine Beine wieder anwinkeln kann, damit ich meine Yoga-Asanas machen konnte, denn die Beine waren durch die Hitze wieder steif geworden. Da fing ich an, mit meinem Körper zu sprechen, mit ihm in Kontakt zu treten und ihn als vollwertigen Partner anzusehen. Indem ich meine Haltung zu mir änderte, nicht mehr verkrampft mein Ziel erreichen wollte, schaffte ich es, innerlich und äußerlich gelassener zu werden. Meine Haltung hatte sich geändert.
Gebe ich meinem Körper und Gehirn doch eine Chance. Nähre ich sie mit Visualisierungen, mit positiven Gedanken und Affirmationen. Schlechte Gedanken manifestieren sich im Gehirn – und das weitaus schneller als die guten Gedanken. Schließe ich meine Augen und stelle mir die entsprechende Bewegung vor. Immer wieder, wo und wann auch immer. Ich trage meinen Körper und mein Gehirn immer bei mir und es lernt kontinuierlich dazu, wenn ich es mit guten Gedanken füttere. Ich weiß um die Erneuerungen und Verknüpfungen meiner Zellen, um die Neuroplastizität. „Neuro“ steht für Neuron, die Nervenzelle in unserem Gehirn und Nervensystem. „Plastizität“ für form- und wandelbar (Norman Doidge, „Neustart im Kopf“). Ich besitze damit die Fähigkeit, Dinge zu verändern, neu zu erlernen und „alte“ Glaubenssätze und Gewohnheiten abzulegen. Ich darf und kann es probieren. Wenn ich liebevoll mit mir und meinem Körper umgehe, wirkt sich das auch auf mein Gehirn aus. Da hat ein „nicht“ oder „nein“ keinen Platz mehr. Auch die Frage nach dem Warum hat mich lange beschäftigt.

Frage nie nach dem Warum

Wann immer ich mir die Frage nach dem Warum stellte, erhielt ich keine Antwort darauf. Sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext stellte ich immer wieder fest, dass dies nur zu Verwirrungen, Stress, Zweifel und Ängsten führt. Vielleicht könnte die Frage eher lauten: Was ist der Sinn?
In meiner Ausbildung „MS: Betroffene beraten Betroffene“ wurde uns die Frage gestellt, was es für uns jetzt bedeuten würde, MS zu haben. Ich konnte erst nicht so recht mit der Frage umgehen, jedoch sprudelte es dann aus mir heraus. „Die MS ist ein Geschenk für mich.“ Das sorgte für Irritation bei den anderen Teilnehmenden. Ich aber war mir sicher, denn ich war erwacht. Erwacht aus einem Schlaf des Funktionierens, des Tun-Müssens, des Den-anderen-Menschen-gefallen-Müssens. Erwacht daraus, mir meine Behinderung nicht einzugestehen und nach außen immer wieder das Gesicht der Susanne zu tragen, die ich vorher war. Der Sinn der MS war für mich, aufgewacht zu sein aus einem langen, tiefen Schlaf, mich zu erkennen, jetzt wahrzunehmen und zu mir zu stehen.
Ich komme wieder auf das Wort „Bewusst-sein“ zurück. Durch diese Frage wurden alle Zweifel, Ängste und Verwirrungen ausgeschaltet, denn ich hatte den Schlüssel nun in meiner Hand und mein Leben bekam somit einen Sinn. Ich begann mein neues Dasein mit positiven Gedanken zu füttern – und zwar mit Affirmationen.

Was wir denken, erschafft unsere Realität

Affirmationen sind Gedankenmuster, durch die wir unser tägliches Erleben erschaffen: Das Leben eines Menschen ist das, was seine Gedanken daraus machen. Wer mir geholfen hat, meine Affirmation zu finden, war mein Freund Nicola aus Italien. Er klebte mir nach unserer Atemtechnik-Arbeit ein Post It auf meinen Spiegel, worauf er geschrieben hatte: „Ich liebe und akzeptiere mich, so wie ich bin.“ Dieser Satz ist von Louise Hay, von der ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie etwas gehört hatte. Die Aufgabe von diesem Post It war folgende: Jedes Mal, wenn ich den Spiegelschrank öffnete, sollte ich mich anschauen und diesen Satz wiederholen. Das fiel mir schwer, denn je öfter ich versuchte, diesen Satz flüssig zu sagen, desto schneller schossen mir die Tränen in die Augen und ich fing an zu weinen. Dieser kurze Satz hat in mir das freigesetzt, was über viele Jahre tief in mir vergraben war. Es war eine innere Vergebungsarbeit.
Was immer wir für Affirmationen für uns finden, die in uns etwas bisher Verborgenes freisetzen, so bin ich davon überzeugt, dass dieses „Werkzeug“ uns immer begleiten wird und damit zum lebenden Beweis wird, dass unsere Art zu denken unseren Körper beeinflussen kann. Wenn ihr möchtet, könnt ihr aufschreiben, was für eine Affirmation derzeit für euch die Passende ist. Denkt daran, dass eure Affirmation nur mit positiven Gedanken niedergeschrieben werden soll, die in der Gegenwart sind. Die Wörter „nicht“ und „kein“ sind negative Wörter und haben keinen Platz. Versucht auch, eine klare Botschaft aufzuschreiben und diese möglichst in einen kurzen Satz zu fassen. Dann könnt ihr euch leicht überall und sofort daran erinnern und es wird schneller im Unterbewusstsein abgespeichert.

Wofür ich dankbar bin

Meine Affirmationen haben mich zur Dankbarkeit geführt. Jeden Tag Gott und dem Universum danken, der Natur – die uns Trinken, Essen beschert und die Luft zum Atmen gibt. Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die wir lieben, Dankbarkeit gegenüber allen Menschen, die uns etwas auf unseren weiteren Lebensweg mitgeben. Seien es die Arbeitskollegen, der Chef, die Familie, Freunde, Bekannte, Verwandte usw. Es liegt an mir, inwieweit ich meine Dankbarkeit äußere und mitteile. Auch mir selbst gegenüber dankbar zu sein, ist eine Hochachtung und Wertschätzung.
Ich habe mich in meinen letzten 22 Jahren und gerade wieder besonders in Sri Lanka oft und ausgiebig mit dem Wort „Dankbarkeit“ beschäftigt. Dankbar bin ich meinem Arzt, meinem Betreuer und Übersetzer, die mir die gesamten fünf Monate bedingungslos zur Seite standen. Die Freundin meines Betreuers hat mir vor meiner Reise ein kleines Notizbuch geschenkt. Ich habe es mein „Dankbarkeitsbuch“ genannt. Vielleicht möchtet ihr euch auch ein Dankbarkeitsbuch zulegen. Legt euer Büchlein sicht- und greifbar an einen Ort, den ihr immer wieder am Tag aufsucht. Versucht es als eine Art Pflichtübung zu sehen. Jeden Tag wenige Momente innezuhalten, den Tag Revue passieren zu lassen und ein Wort oder einen Satz niederzuschreiben, der für euch gerade wichtig und stimmig ist. Es ist ein Geschenk von euch – an euch.
Zum Abschluss möchte ich Andrea Gardener zitieren aus „Ändere deine Worte und du änderst deine Welt“: „Dankbarkeit ist ein nützlicher Boden, auf dem wir den Samen unserer Träume säen.“

Die Autorin Susanne Oehler

Susanne Oehler, Jahrgang 1964, lebte viele Jahre im Ausland, bevor sie 1995 nach Deutschland zurückkehrte und im selben Jahr bei ihr MS diagnostiziert wurde. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Essen. Seit vielen Jahren praktiziert Susanne Oehler Yoga und versteht diesen Weg mit Ayurveda zusammen als eine Einheit. Heute ist sie Rollstuhlfahrerin. Ihr Lebensmotto lautet: „Do what you can with what you have and where you are“. („Tue, was du kannst, mit dem, was du hast und wo du bist.“)