Man darf nur nicht aufgeben, nie! - Bahnfahren hat auch etwas Gutes
Thomas Wefing, Blickpunkt-Ausgabe 02/2020
Das ist so leicht gesagt, ich weiß, aber in dem folgenden Beispiel hat es sich einfach gelohnt, sich nicht „hängen“ zu lassen und Durchhaltevermögen zu zeigen – auch wenn es noch so schwerfiel und die jeweilige Situation auf den ersten Blick aussichtslos erschien.
Unterwegs mit der Bahn
An diesem Tag stand für mich ein Besuch in der Kölner Uniklinik auf der Tagesordnung, wofür ich die öffentlichen Verkehrsmittel genutzt habe. Es hat vor Ort alles gut geklappt und ich freute mich auf einen frühen Zug vom Kölner Hauptbahnhof nach Hause. Und wer noch nie an diesem Bahnhof war, der sollte wissen, dass sich dort sehr viele Menschen auf einem begrenzten Raum mit (in meinen Augen) zu wenigen Gleisen (zwei S-Bahn- und neun Bahngleise) zurechtfinden müssen. Meine Züge fahren abwechselnd alle 30 Minuten von Gleis 8 oder 9 (vom gleichen Bahnsteig) ab. Bei der etwa fünfminütigen Standzeit des Zuges hat es bisher immer ausgereicht, einem Schaffner oder dem Lokführer zu signalisieren, dass noch ein Rollstuhlfahrer mitfahren möchte. Zum rechtzeitigen (telefonischen) Anmelden fehlt hier einfach die Zeit und Ruhe.
Voller Zuversicht und Optimismus rollte ich also zu dem Aufzug für meinen Bahnsteig (pro Bahnsteig gibt es hier einen großen und schnellen Aufzug). Dort bekam ich allerdings schnell eine andere Gesichtsfarbe, denn irgendwelche Monteure schraubten an dem abgesperrten Aufzug herum und meinten, dass dieser aufgrund von Reparaturarbeiten vorläufig nicht zu benutzen sei.
Zuversicht sieht anders aus
Aber was sollte ich jetzt tun und wie sollte ich nun nach Hause kommen? Zuversicht sieht anders aus, und mir wurde wieder einmal bewusst, wie sehr ich von funktionierenden Aufzügen abhängig bin. Viele andere Reisende zuckten nur kurz mit der Schulter und nahmen einfach die Treppe. Ich musste aber doch irgendwie auf „meinen“ Bahnsteig kommen. Die S-Bahn, die bis zu einem Ort vor meinem Zielbahnhof fährt, ist leider nicht für Rollstuhlfahrer*innen nutzbar. Und rollstuhltaugliche Taxis sind hier nicht zu bekommen. In dieser Beziehung sind die Zustände in der Millionenstadt Köln eher vergleichbar mit den Gegebenheiten in Entwicklungsländern.
Die Ruhe in Person
Nachdem ich mich wieder etwas beruhigt hatte, reihte ich mich schließlich in die Warteschlange vor dem Bahn-Servicepoint ein, berichtete von dem defekten Aufzug und erklärte, dass ich dringend („dringend“, weil das den Druck auf den Bahnmitarbeiter erhöhen sollte) einen Zug in Richtung Aachen nehmen müsste. Der Bahnmitarbeiter war die Ruhe in Person. Davon sollte ich mir mal eine Scheibe abschneiden. Er telefonierte ununterbrochen und meinte schließlich zu mir, dass ich nun den Aufzug zum Bahnsteig für die S-Bahnen (Gleise 10 und 11) nehmen sollte. Im Wartebereich D würde schon eine Mitarbeiterin der Bahn auf mich warten und mir schließlich weiterhelfen.
Das erste Wunder
Nun hatte mich der Bahnmitarbeiter aber so richtig neugierig gemacht. Schnell war ich am vorgeschlagenen Ort und wurde dort überschwänglich von einer Bahnmitarbeiterin begrüßt. Also, so nett wurde ich noch nie von Bahnangestellten in Empfang genommen. Und nun? Nun schloss sie die Aufzugtür vom Lastenaufzug des Bahnsteigs auf, und wir beide sind in den Keller des Kölner Hauptbahnhofs gefahren. Hier kommt auch nicht jeder Fahrgast hin – zum Glück, denn dort war es dunkel und staubig, Kabel lagen herum. Wir fuhren wieder hoch zu meinem ersehnten Zielbahnsteig und damit dachte ich, dieses Abenteuer endlich überstanden zu haben. Dem war jedoch nicht so.
Und das zweite…
Oben angekommen war es auf dem Bahnsteig leider sehr voll. „Mein“ Zug fuhr direkt als zweiter Zug im Gleis am hinteren Ende des Bahnsteigs ein. Ich bedankte mich noch bei meiner Helferin und schloss mich einem ganzen Trupp von Leuten an, die sich in Richtung Zug bewegten, mit mir als rollstuhlfahrendem Anhängsel. Und um den Abfahrtszeitpunkt nicht zu verpassen, stiegen alle direkt in den ersten Waggon ein, in „meinen“ Großraumwaggon. Als ich dort ankam, war der Waggon schon restlos überfüllt, und ich sah meine Heimfahrt wieder in weite Ferne gerückt. Aus Trotz signalisierte ich dem Lokführer bzw. Schaffner dennoch meinen Wunsch, auch noch mitgenommen zu werden.
Dann geschah das zweite „Wunder“. Während er die Rampe für mich ausfuhr, richtete er sinngemäß folgende Botschaft an die anderen Reisenden: „Dieser Waggon ist vorzugsweise reserviert für Leute mit großen Gepäckstücken, Reisende mit Kinderwagen, Rollator, Fahrrad oder Rollstuhl. Und dafür wird jetzt etwas Platz gebraucht. Wer also noch halbwegs mobil ist und gehen kann, möge sich bitte einen Platz weiter hinten im Zug suchen.“ Und plötzlich war in dem Getümmel ein Platz für mich frei. Ich nannte dem Zugbegleiter noch meinen Zielbahnhof. Er würde wohl einen Bahnhof eher aussteigen, aber seinen Nachfolger über meinen Zielbahnhof informieren.
Und weiter ging’s
Irgendwann sind wir dann losgefahren und nach und nach leerte sich der Zug. Kurz vor meinem Ausstiegsbahnhof fuhr ich mit dem Rollstuhl in eine gute Position zum Herausfahren. Wir wurden langsamer und langsamer und so allmählich sollte der zugestiegene Schaffner auftauchen, aber nichts geschah. Mein Blutdruck stieg und ich wurde nervös. Wurde mein Ausstiegswunsch nicht weitergeleitet oder hatte man mich womöglich vergessen? Nach und nach erkannte ich den heimischen Bahnhof und kurze Zeit später hielt der Zug. Hier musste ich doch aussteigen, aber vom Schaffner war nichts zu sehen. Ich blieb einfach sitzen, der Zug stand noch immer und ich bemühte mich, meine Nerven im Griff zu behalten.
Wie viel Zeit inzwischen verstrichen war, kann ich nicht mehr sagen, doch plötzlich hörte ich aus dem Nichts eine Stimme, die meinen Ausstiegswunsch bestätigte. Es war der Lokführer, der nun die Rampe betätigte und mir wieder den Weg in die Freiheit eröffnete. Ich konnte mich wieder beruhigen und bedankte mich bei ihm. Abschließend wünschten wir uns noch gegenseitig eine gute Restfahrt, der eine mit seinem 15.000 V und 160 km/h Spitzengeschwindigkeit und der andere mit 24 V und maximal (ungetunten) 6 km/h.
Mein Fazit
Dieser Tag bestätigte einmal mehr: Eine Fahrt mit der Bahn ist immer eine interessante, nie vorhersagbare und damit auch nie langweilige Fahrt. Und was ich aus dem Tag gelernt habe: Man darf nie zu früh aufgeben, auch wenn es zunächst noch so aussichtslos aussieht. Immer wieder dachte ich daran, die Flinte einfach ins Korn zu werfen. Aber es gibt sie doch, die netten Menschen, die sich einfach für uns Behinderte einsetzen und überraschende Lösungen finden, an die wir vorher nicht einmal gedacht hatten. Und das gibt ein gutes Gefühl, auch wenn unser Nervenkostüm dabei strapaziert wird.
Für die Fahrt stünde mir wohl auch ein (Rollstuhl-)Taxi zu. Diese kostenintensive Fahrt wäre zwar schneller, ohne das „auf sich aufmerksam machen“ und ohne das Kennenlernen der vielen Helfer*innen aber sicher auch eher langweilig gewesen.