Zurück ins Leben
Petra Orben, Blickpunkt-Ausgabe 01/2020
Langsam. Ganz langsam. Schritt für Schritt. Die Dramatik der vergangenen Monate seit September 2019 vergessen, bzw. Frieden damit schließen. Aber wie schließt man Frieden mit etwas, das man gar nicht verstanden hat?
Was war passiert?
Aufenthalt in einer MS-Fachklinik. Auf deren Pflegestation gekommen. Einsamkeit. Bewegungsängste. Horrorvisionen bezüglich meiner Zukunft. Pflegeheim mit 57 Jahren? Perspektivlosigkeit. Wieso war mein Körper „plötzlich“ so ausgeknockt? Alles von jetzt auf gleich. Ging mir viel zu schnell.
Wie waren sie denn, meine letzten Monate?
Anfangs noch sehr von Angst besetzt, gepaart mit vielen Sorgen und offenen Fragen. Werde ich es schaffen, erneut in Bewegung zu kommen? Wie vor besagtem Krankenhausaufenthalt in der Lage sein, die jahrelang eingeübten Bewegungsmuster wieder problemlos abzurufen? Kann sich meine stark angeschlagene Psyche wieder erholen? Wird sich noch irgendwas Schönes in meinem Leben ereignen? Neben der intensiven Suche nach Antworten gab es Unmengen zu erledigen. Telefongespräche, E-Mails, konventionelle Briefe und immer wieder Personen, die mir mit Rat und Tat zur Seite stehen wollten. Von überall her habe ich mir Hilfe, Unterstützung oder eine sinnvolle Perspektive erhofft. Und so tummelten sich auf einmal tausende von Menschen in meinem Leben. Wie schon im letzten Blickpunkt geschrieben, hatte ich plötzlich einen Fulltime-Job. Was für ein Mist! Was für eine Überforderung! Und das gerade in der Zeit, in der es mir auf allen Ebenen so miserabel zumute war.
Rückkehr zur Normalität
Ganz langsam kamen einige Bewegungen wieder zurück. Auch hat sich die plötzliche, übergroße Angst vor der Bewegung etwas relativiert. Das heißt, manchmal ist wieder ein alleiniges Umsetzen möglich, auch auf das Klo kann ich mich meist alleine bugsieren. Wenn es aber ein anstrengender Tag war, brauche ich Unterstützung. Dann muss ich auch weiterhin Nachbarn, Freunde oder meine Pflegeperson um Hilfe bitten.
Nach langem Suchen kommt nun doch ein Pflegedienst, der mir beim Duschen hilft. Das entspannt die ganze Lage. Weil dieses Unternehmen nach einem anderen Konzept arbeitet als die „normalen“ Pflegedienste, gibt es einen verbindlichen Zeitplan. Pro Einsatz werden Minimum zwei Stunden vor Ort veranschlagt. So können wir nach den 30 Minuten, die wir fürs Duschen brauchen, noch Sachen in der Wohnung erledigen. (www.homeinstead.de) Einziger Wermutstropfen ist, dass sie leider keine Hautkontrolle oder Wundversorgung anbieten. Also muss ich mit meiner Hautproblematik (an Rücken und Gesäß) weiterhin zum Arzt rennen. Doof.
Aber meine allmorgendlichen Aktionen (KG, Rehasport, Heilpraktikerin…) kann ich wieder regelmäßig wahrnehmen. Mal mit dem Taxi, mal fahre ich selbst oder mal chauffieren mich Bekannte. Das war‘s dann allerdings auch schon mit meinen Aktivitäten. Alles, was mit Freizeitgestaltung zu tun hat, muss ich leider weiterhin eingestellt lassen. Dafür reicht meine Kraft noch nicht aus. Bin zu müde, und das vor allem in der Dunkelheit der Nacht. Meine Aktivitäten – sie fehlen mir sehr!
Erste Umräumaktionen in der Wohnung
Wenn ich in den letzten Monaten also nicht gerade irgendetwas organisierte oder wegen irgendwelcher Therapien außer Haus war, habe ich viel der verbliebenen Zeit auf meinem Sofa verbracht, Serien auf Netflix geschaut oder vor mich hingestiert. Taschentücher waren mein ständiger Begleiter. Weil mich die Serien so anrührten oder ich mir selbst leidtat. Sollte so mein weiteres Leben aussehen? Therapien, TV-Serien und Tempos? Was für ein schrecklicher Gedanke! Schluss damit, ich musste irgendetwas tun. Aktiv tun und nicht nur auf irgendwelche Rückrufe von irgendwelchen Leuten warten. Ich wollte meine Wohnung irgendwie verändern. Praktischer gestalten. Ich wohne hier im elften Jahr und habe kein einziges Mal irgendetwas umplatziert, nur weiteres dazugestellt. Ganz vorsichtig fing ich im Badezimmer an. All der viele Krimskrams, der zwischen den Cremetöpfchen rumlag, ein Dekosteinchen hier, ein Dekokästchen da, ab in den Müll. Alles weg. So sah es doch schon viel freier aus. Das gefiel mir. Als Nächstes die Küche. Hier musste nicht so viel hin- und hergeräumt werden, da ich damals beim Einzug, eher zufällig, auf viele Dinge geachtet hatte, die mir nun zugutekommen. Abgesenkte Herdplatte zum Drunterrollen, kein störender Schrank unter der Spüle, ansonsten relativ niedrige Schränke und viele Schubladen. Praktisch, also war die Küche in Nullkommanichts fertig. Zwei, drei überflüssige Vasen oder nie benutzte Tassen flogen in den Abfalleimer.
Im Schlafzimmer wurde meine Garderobenablage komplett neu geordnet, überflüssiges Möbel rausgeschmissen und ein völlig verstaubter Wandteppich abgehängt. Durch die geänderte Ordnung komme ich nun viel besser an meine Klamotten. So brauche ich nicht immer nur das anziehen, was sowieso unten liegt, während der Rest friedlich vor sich hingammelt. Da hätte ich ja auch schon mal eher drauf kommen können.
Nichts übers Knie brechen
Die Umräumaktion brauchte mal eine Pause. Und ich Zeit, um das alles zu realisieren. Es ging nicht nur darum, überflüssigen Krempel wegzuwerfen oder es „netter“ umzugestalten, wie ich anfangs dachte. Es ist auf ganz anderer Ebene etwas passiert. Nämlich die Akzeptanz von dem, was jetzt ist. In meiner schlechten körperlichen Verfassung habe ich gar keine andere Wahl, als alles so umzuorganisieren, dass ich auch mit weniger Kraft und den eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten zurechtkomme. Das mit der Akzeptanz war mir gar nicht so klar. Mein Psychologe brachte mich drauf. Fällt mir allerdings schwer, muss ich zugeben. Aber ich beginne zu verstehen, dass es jetzt an der Zeit ist, Altes abzuschließen und Platz für Neues zu schaffen. Was immer da auch kommen mag. Mich mutig allem Weiteren stellen. Auch wenn ich noch nicht weiß, wohin die Reise geht.
Weiter ging‘s
Etwas erholt von der ersten Räumerei, kam nun das Wohnzimmer an die Reihe. Zuallererst habe ich die „schönen“ Dinge, wie Fotos von mir (beim Trommeln, Tanzen, Klettern…) oder die netten kleinen Geschenke von Freunden ins Nichts verschwinden lassen. Wollte keine Erinnerungsstücke aus guten Zeiten mehr um mich herum haben. Das machte mich alles zu traurig, und ich sah nur den Verlust von meiner einstigen „Lebendigkeit“. Also, schnell weg mit diesen Souvenirs. Akzeptanz meiner jetzigen Situation hin oder her. Weiter ging es mit dem eigentlichen Ausmisten. Schnell war klar, dass wir hier viel Arbeit haben würden. Überall Bücher, Unmengen von Ordnern, Unmengen von alten Dokumenten, Unmengen von Krimskrams, was da im Regal rumstand. Aussortieren, durchgucken und dann weg damit. Was für eine Arbeit! Jetzt ist es gut übersichtlich und erheblich praktischer. Allerdings muss ich zugeben, dass ich all meine Erinnerungsbilder (bis jetzt) noch nicht wieder zurückplatziert habe. Derzeit brauche ich noch etwas Abstand zu diesen Dingen.
Und nun zu meinem Büro. Auch hier musste ganz viel Hand angelegt werden. Früher konnte ich von meinem Bürostuhl aus sehr gut agieren, aber seit dem Schwächeanfall im September habe ich mich nicht mehr getraut, mich auf besagten Stuhl umzusetzen. Aber vom Rollstuhl aus war vieles überhaupt nicht zu erledigen. Ich kam weder an die Tastatur, noch an irgendwelche Ordner richtig gut dran. Mittlerweile ist auch hier wieder Ruhe eingekehrt und das Büro erstrahlt in neuem Glanz, mit neuen weißen Schreibtischmöbeln und einem neuen Ablagesystem. So, jetzt reicht’s mir aber mit irgendwelchen Wohnungsverbesserungen.
Highlight Sprossenwand
Halt, eins noch. Ich habe mir eine Sprossenwand besorgt (www.sportgeraete-langer.de). Das Ding passt perfekt in mein Wohnzimmer. Hieran macht mir Bewegung wieder Spaß. Ich kann mich daran aushängen, mich hinstellen, Kniebeugen machen, verschiedene Greiftechniken ausprobieren, Aufstehübungen absolvieren und bestimmt noch vieles mehr. Toll! Und das alles ohne Angst, dass ich hinfallen könnte. Schlimmstenfalls fiele ich in den Rollstuhl zurück. An dem Teil gibt es 13 Streben, wovon die oberste und drittletzte vorgelagert sind. Genau dieser Fakt ist echt super funktional für mich. Mit Versand durch eine Spedition hat mich der ganze Spaß 250 € gekostet. Ein stolzer Preis, aber das ist mir das Ganze allemal wert. Anbohren musste ich natürlich selbst, bzw. ein lieber Nachbar hat zur Bohrmaschine und Dübeln gegriffen.
Dünnes Eis
Ich bin noch nicht überm Berg, aber auf dem Weg. Wie und wo ich langfristig wohnen werde, steht zum Beispiel noch in den Sternen. Trotz diverser Telefonate diesbezüglich habe ich derzeit keinerlei Perspektive oder Idee. Ich frage mich, wo denn all die Menschen sind, die sich in einer ähnlichen Lage befinden wie ich. Wo und wie wohnen die denn alle? Bei großen Behindertenverbänden vertrösten mich die Mitarbeiter mit den Worten: „Das weiß ich jetzt auch nicht. Vielleicht wollen Sie in einer Einrichtung für ‚Junge Pflege‘ wohnen?“ Nein, will ich nicht! Das heißt, ich bleibe erst einmal in meiner gewohnten Umgebung, baue mein Unterstützungsnetz noch weiter aus und hoffe, dass ich weiterhin „bei Laune“ bleibe und Kraft sammeln kann. Meine Wohnung ist ja mittlerweile ziemlich praktisch für mich eingerichtet.
Die letzten Monate haben mir sehr deutlich gezeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem ich mich bewege. Im September bin ich eingebrochen und dachte, dass ich in dem kalten Wasser erfrieren würde. Ich war nicht mehr in der Lage, klar zu sehen, mich zu bewegen, war gefangen in meiner Hoffnungslosigkeit. Aber scheinbar habe ich starke Persönlichkeitsanteile, die mich nicht so einfach vom Haken lassen wollten. Darauf vertraue ich auch weiterhin. Irgendwann wird sich eine Lösung finden, mit der ich gut leben kann. Da bin ich mir sicher. Doch der Weg ist schmerzlich und lang…
Liebe Blickpunkt-Leserinnen und Blickpunkt-Leser, sollte Ihnen eine tolle Wohnmöglichkeit oder eine Idee dazu vor die Füße fallen, scheuen Sie sich nicht, mir diese mitzuteilen. Prima fände ich eine Art Wohn-/Lebensgemeinschaft, wo jeder genug persönlichen Freiraum hat, man aber dennoch so einiges gemeinsam unternehmen kann. Und natürlich Spaß daran hat, miteinander Zeit zu verbringen.
Herzlichst Ihre
Petra Orben