Das Uhthoff-Phänomen im Winter
Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 04/2022
Viele denken, dass es das sogenannte „Uhthoff-Phänomen“ nur im Sommer bei großer Hitze gibt, richtig ist aber, dass es sich hier um ein sehr hartnäckiges Phänomen handelt, das sich durchaus auch im Winter zeigen kann.
Was ist das Uhthoff-Phänomen und wann tritt es auf?
Unter dem Einfluss von Hitze oder einer erhöhten Körpertemperatur verlangsamt sich die Leitfähigkeit der demyelinisierten Axone, was bei etwa 80 Prozent der MS-Betroffenen einen sogenannten Pseudoschub ausgelöst. „Pseudoschub“ nennt man es deshalb, weil die Symptome durch physikalische Phänomene (und nicht durch entzündliche Prozesse) zustande kommen. Eine akute Verschlechterung aller MS-Symptome ist die Folge und kann Seh- und Gefühlsstörungen, Koordinations- und Konzentrationsschwierigkeiten bis hin zu Lähmungen oder schweren Beinen und Fatigue bedeuten, sodass man nicht mehr laufen kann. Diese Störungen bilden sich bei Normalisierung der Körpertemperatur wieder zurück. Benannt nach dem deutschen Augenarzt Wilhelm Uhthoff (1853–1927), bringen viele das Phänomen hauptsächlich mit großer Hitzeeinstrahlung, wie sie etwa im Hochsommer vorkommt, in Verbindung, das ist aber leider nicht die ganze Wahrheit.
Haben Sie schon einmal erlebt, dass es Ihnen unter der Kuscheldecke auf dem Sofa plötzlich zu warm wird und Sie sich unwohl fühlen? Voilà, da ist es schon, das „Uhthoff-Phänomen“! Warme Räume, ganz zu schweigen von einem Sauna-Besuch oder einem Bad in der heißen Wanne tun ein Übriges. Aber es muss gar nicht so extrem sein: Ich bin neulich von meiner kleinen Gassirunde zurückgekommen und merkte schon unterwegs, dass es mir zu warm wird. Ich lockerte mein Halstuch, öffnete die Jacke und trotzdem standen mir Schweißperlen auf der Stirn. Akute Uhthoff-Gefahr!
Wenn man dann ins warme Haus hineinkommt, kann der Wechsel (besonders auch bei sehr kalter Luft draußen) zur warmen Wohnung schon das Phänomen auslösen. Passieren tut dabei das Gleiche wie im Sommer.
Wenn MS-Betroffene über das Uhthoff-Phänomen klagen, ist das kein „Jammern“, sondern ein Kampf mit einem der unsichtbaren Symptome der MS. Es gibt so viele weitere Beispiele, und es ist dann nicht hilfreich, wenn unser Gegenüber meint, „es sei doch gar nicht warm!“. Unserem Nervensystem reicht tatsächlich auch im Winter eine winzige Kleinigkeit, um es entgleisen zu lassen. Eine heiße Tasse Kaffee oder Tee, eine warme Suppe, die zwar vielleicht gegen die Kälte grundsätzlich guttun, für uns aber zur Uhthoff-Falle werden können. Unsere Nervenleitbahnen sind temperaturempfindlicher und werden überreizt – unser ohnehin schon beeinträchtigtes Wärme-Kälte-Empfinden wird unangenehm aktiviert. Warme Socken, die unsere „Eis-Füße“ wärmen sollen, werden plötzlich zur Qual, weil uns die Hitze einschießt. Auch Fieber gilt als Auslöser.
Oft tritt Uhthoff auch zusammen mit Fatigue auf, oder es löst einen Fatigue-Anfall aus. Das ist deshalb alles sehr ernst zu nehmen, denn getreu nach dem Motto „Schlimmer geht immer“ ist mit vielen Nachwirkungen zu rechnen.
Keine Einbildung, sondern Realität
Gut gemeinte Ratschläge helfen auch hier nur wenig – wir müssen lernen, für uns selbst zu sorgen und einfach austaxieren, was genau in diesem Moment richtig für uns ist. Wichtig ist, dass man sich bewusst macht, dass sowohl das Uhthoff-Phänomen als auch die Fatigue willentlich NICHT zu beeinflussen sind! Es ist neurologisch nachgewiesen, dass bei auftretender Wärme die Nervenleitbahnen verlangsamt, kaum oder „verkehrt“ arbeiten. Wir können definitiv nichts dazu! Das ist auch für Angehörige wichtig zu wissen: Es ist ein Teil unserer Erkrankung – und noch dazu unsichtbar.
Ein bisschen Hilfe
Auch im Winter hilft es dann, sich wieder abzukühlen, etwas Kaltes zu trinken und vor allem die Wärmequelle zu verlassen. Eventuell kann man sich auch eines Kleidungsstückes entledigen. Der berühmte „Zwiebellook“ ist da sehr hilfreich: Ich behelfe mir z. B. eher mit dünnen Shirts und einer Jacke darüber, die ich dann notfalls ausziehen kann.
Verkehrte Welt
Manchmal ist es eine Gratwanderung, denn nach dem leichten Abkühlen kann sofort wieder ein Gefühl von dringender Kälte auftreten. Mir wird, wenn ich mit Freunden zusammen bin, deshalb oft angedichtet, dass ich meine Schweißausbrüche den Wechseljahren zu verdanken hätte. Darüber kann ich nur milde lächeln, denn diese hormonellen Schweißausbrüche verursachen weder eine Fatigue, noch machen sie schwere Beine oder taube Gliedmaßen! 😉
Unangenehm sind sie zwar ebenso, aber so, wie eine Fatigue nicht im Entferntesten mit einer normalen Müdigkeit vergleichbar ist, so ist das Uhthoff-Phänomen auch nicht mit normalem Schwitzen vergleichbar. Einer oder einem Gesunden wird nicht übel, nicht schwindelig, nicht unwohl und vor allem fühlt sie oder er sich nicht halb ohnmächtig, wenn ihr oder ihm etwas warm ist. Uhthoff-Geplagte aber empfinden das Phänomen als niederschmetternd, zerstörend, unpassend und oft auch als „krankes Gefühl“ völliger Niedergeschlagenheit. Es ist eine körperliche Katastrophe und eine seelische Erniedrigung! Genau deshalb ist es so wichtig, dass man die unsichtbaren Symptome der Multiplen Sklerose kennt und für sich selbst einordnen kann.
Übrigens: Eine schreckliche Kälte-Missempfindung kann genauso und mehr oder minder gleichzeitig auftreten. Die MS macht‘s: Alles ist möglich – vor allem das Unfassbare!
Ich wünsche Ihnen allen einen angenehmen Winter ohne Uhthoff und ohne Fatigue. Haben Sie eine schöne Adventszeit und kommen Sie gut und möglichst „gesund“ ins neue Jahr.
Ihre
Heike Führ