Depressionen bei MS - Wege aus der Angst
Heike Führ, Blickpunkt-Ausgabe 04/2023
Am 9.9.23 durfte ich im Rahmen der MSK-Vorträge erstmals zum Thema „Depressionen und Wege aus der Angst“ vortragen. Aufgrund der besonderen Stimmung an diesem Tag habe ich Ihnen stattdessen von Motivation und vom Annehmen der MS erzählt. Der Wunsch nach einem Vortrag über Depressionen war geblieben und somit durfte ich am 11.11.23 noch einmal dazu referieren.
Depression, was ist das eigentlich?
Die Depression (von lateinisch deprimere „niederdrücken“) ist eine affektive psychische Störung. Ihre Zeichen sind negative Stimmungen und Gedanken sowie Verlust von Freude, Lustempfinden, Interesse, Antrieb, Selbstwertgefühl, Leistungsfähigkeit und Einfühlungsvermögen. Diese Symptome, die bei gesunden Menschen zeitweise auftreten, sind bei Depressionen schwerwiegender. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird der Begriff „depressiv“ häufig für eine Verstimmung verwendet. Im psychiatrischen Sinne ist die Depression jedoch eine ernste, behandlungsbedürftige Störung, die sich der Beeinflussung durch Willenskraft oder Selbstdisziplin der Betroffenen entzieht.
Man vermutet, dass unterschiedliche Faktoren wie Vererbung, organische Veränderungen des Gehirns, hormonelle Störungen, ein gestörtes Immunsystem oder soziale Komponenten Depressionen begünstigen.
Depressionen bei MS
Menschen mit einer MS haben ein höheres Risiko, auch an einer Depression zu erkranken – Schätzungen zufolge beläuft es sich auf rund 50 %, also das Dreifache im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Tatsächlich ist die Depression eines der häufigsten Symptome der MS-Erkrankung (und tritt bei ihr auch häufiger auf als bei anderen neurologischen oder chronischen Erkrankungen). Wie genau MS und Depression allerdings zusammenhängen, ist noch nicht geklärt.
Die chronische Erkrankung selbst bringt sicherlich eine psychische Belastung durch die Ungewissheit und Widrigkeiten des Verlaufs mit sich (die Depression entsteht also als Reaktion auf die Krankheit selbst), neuropsychologische Vorgänge im Verlauf der MS (etwa durch Entzündungsherde im Gehirn) können die Depression aber auch auslösen. Darüber hinaus werden genetische Faktoren, hormonelle Störungen und ein beeinträchtigtes Immunsystem, Stress oder auch Medikamente (zur Behandlung der MS und ihrer Symptome) als Auslöser diskutiert.
Formen und Symptome
Man unterscheidet eine endogene Depression (also innen entstanden, infolge veränderter Stoffwechselvorgänge im Gehirn, im klinischen Alltag als eine Form der affektiven Psychose bezeichnet), die ohne erkennbare Ursache auftritt (und bei der auch eine genetische Mitverursachung vermutet wird), eine neurotische Depression (Dysthymie, auch Erschöpfungsdepression, verursacht durch länger andauernde belastende Erfahrungen in der Lebensgeschichte) sowie eine reaktive Depression – als Reaktion auf ein aktuell belastendes Ereignis.
Eine Depression liegt vor, wenn einige der folgenden Kernsymptome über mindestens zwei Wochen vorliegen und so ausgeprägt sind, dass der Alltag entweder nur noch unter Schwierigkeiten oder gar nicht mehr bewältigt werden kann:
- gedrückte Stimmung, Freud- und Hoffnungslosigkeit, Interessensverlust;
- Gefühl von Schuld und Wertlosigkeit, mangelndes Selbstvertrauen;
- Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Erschöpfung;
- Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Entscheidungsschwierigkeiten;
- Schlaf- und Essstörungen (Appetitverlust oder Essattacken), verminderter Sexualtrieb;
- körperliche Beschwerden, die keine körperliche Ursache haben;
- Suizidgedanken oder -handlungen.
Unterschieden wird auch nach der Intensität der Depression, die Formen reichen von einer depressiven Verstimmung über leichte, mittelschwere, schwere, chronische, rezidivierende Depression, saisonale, pränatale, postnatale oder Erschöpfungsdepression sowie Subtypen.
Die Symptomatik einer Depression kann sich bei Frauen und Männern auf unterschiedliche Weise zeigen. Bei den Basis-Symptomen sind die Unterschiede eher gering. Bei Frauen sind eher Phänomene wie Mutlosigkeit und Grübeln verstärkt zu beobachten. Bei Männern dagegen gibt es deutliche Hinweise darauf, dass eine Depression sich auch in einer Tendenz zu aggressivem Verhalten niederschlagen kann.
Eine Depression kann Wochen und Monate anhalten. Manche Menschen haben über viele Jahre hinweg immer wieder depressive Episoden und Phasen. Betroffene quälen sich dann mit Selbstvorwürfen, betrachten ihre Depression oft als ihr persönliches „Versagen“, stellen ihr Leben infrage oder bewerten es als sinnlos. Schwierig ist, dass sie deshalb auch meist denken, man könne nichts dagegen tun. Da sie keine Freude mehr empfinden können, ist es ihnen in den Momenten der schlimmen Depression auch fremd, an etwas Schönes zu denken – von motivierenden Gedanken ganz zu schweigen. Sie sind gefangen im eigenen Körper. Innere Leere stellt sich ein, sie fühlen sich „abgestorben“, erstarrt und leer. Weil ihnen die Perspektive für die Zukunft fehlt, ziehen sich viele Betroffene auch ganz zurück und verlieren das Interesse an anderen Menschen – soziale Isolation kann eine Folge sein. Das macht es auch für Angehörige schwer, überhaupt zu helfen.
Diagnose und Behandlung
Nicht jede Verstimmung oder Phase der schlechten Laune ist gleich eine Depression. Während eine depressive Verstimmung (also eine Phase der Traurigkeit, des Verlustgefühls, der Unlust oder dem Gefühl der Leere und der Sinnlosigkeit) durch Eigeninitiative, positives Erleben und durch die Unterstützung eines guten Umfelds zu meistern und zu beenden ist, nimmt die Depression buchstäblich die ganze Person ein und kann nicht mehr ohne professionelle Hilfe von außen bewältigt werden. Wie gezeigt, äußert sich die Depression nicht nur in einem gestörten Gefühlsleben, sondern beeinträchtigt auch die Leistungs- und Urteilsfähigkeit und äußert sich in körperlichen Beschwerden wie Schmerzen, Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen und sexuellem Desinteresse. Dauert so ein Tief also länger als zwei Wochen an bzw. kommt das Gefühl auf, die Situation ist nicht mehr selbst zu verändern, sollten Sie Ihre behandelnden Ärzt*innen informieren. Durch die Hinzuziehung professioneller Hilfe und der geeigneten therapeutischen Maßnahmen kann der Depression recht zeitnah wirkungsvoll begegnet werden. Eine Depression ist behandelbar.
Zur Behandlung depressiver Störungen werden nach Abklärung möglicher Ursachen und des Verlaufs der Erkrankung entweder Antidepressiva eingesetzt oder (bei leichten und mittelschweren Formen) auch eine Psychotherapie ohne Medikation (bspw. eine kognitive Verhaltenstherapie). Dabei erlernte Bewältigungsstrategien („Coping“) können helfen, der doppelten Belastung (MS und Depression) zu begegnen.
Antidepressiva müssen mehrere Wochen eingenommen werden, bevor eine Besserung eintritt – das geschieht immer in Absprache mit Ihren Ärzt*innen oder Therapeut*innen und darf nicht eigenmächtig abgesetzt werden. Die gewählte Therapieform und -dauer richtet sich grundsätzlich nach der Persönlichkeit der Patient*innen, denen es gilt, möglichst viel Lebensqualität und Wohlbefinden zurückzugeben.
Der Depression begegnen
Leider ist die Depression immer noch ein Tabuthema in unserer Gesellschaft, obwohl sie Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge fast 20 % der Weltbevölkerung treffen kann. Grund dafür kann sein, dass sie als Krankheit (noch) nicht ernstgenommen wird und den Betroffenen oft Willensschwäche unterstellt wird. „Ein Tief haben wir doch alle mal“ oder „Reiß dich zusammen“ – solche Sprüche kennen Betroffene sicher nur zu gut. Menschen mit chronischen Erkrankungen wie der MS sollten ihre Leiden nichtsdestotrotz immer offen ansprechen, um geeignete Hilfe zu erhalten und wieder mehr Lebensqualität zu gewinnen.
Was sich neben der professionellen Hilfe bewährt hat, sind folgende Punkte:
- Ziehen Sie sich nach der MS-Diagnose nicht zurück, sondern suchen Sie aktiv den Kontakt zu anderen Menschen (etwa über Facebook, spezielle Foren, Selbsthilfegruppen und Freunde).
- Bleiben Sie wenn möglich im Beruf oder bewahren sich eine Aufgabe, die Ihnen Freude und Sinn bietet.
- Bleiben Sie in Bewegung (regelmäßig, möglichst zu einem festen Zeitpunkt).
- Lernen Sie, selbstbewusst zu sein und bleiben Sie selbstbewusst! Denn nur so können Sie über vielleicht abwertende Reaktionen, Ungeduld oder böse Kommentare Ihrer Mitmenschen hinwegsehen, die Sie traurig oder mutlos machen.
- Gedanken wie: „Warum gerade ich?“ oder sonstige Ursachenforschungen bringen Sie nicht weiter. Das STOPP-Wort ist eine gute Hilfe: Sollten Sie im Gedanken-Karussell landen, sagen Sie laut und deutlich „STOPP“, um sich auf andere Gedanken zu bringen.
- Setzen Sie sich kleine Ziele für den Tag, die ohne Leistungsdruck erreicht werden können (und belohnen Sie sich dafür).
Ihre
Heike Führ