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Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Das Leben bunt anmalen: Sinnfragen und Antworten aus meinem Lebenstagebuch

Petra Orben, Blickpunkt-Ausgabe 03/2019

Und wieder einmal ist es an der Zeit, mich mit meinem irdischen Dasein auseinanderzusetzen. Ab und an überfällt mich eine Art Leere. Ich stelle mir dann einen Haufen Sinnfragen, bin hin- und hergerissen, entdecke nur wenig passable Antworten und finde meinen Platz im Karussell des Lebens nicht so gut. Die MS-Erkrankung macht es mir in solchen Fällen nicht unbedingt leicht, den Blick auf das Positive zu lenken. Auch wenn mir dann „gesunde“ Menschen von ihren ähnlich dunklen Gefühlslagen berichten, hilft mir das in diesen Momenten nicht viel weiter. Just als ich mich in einer solchen Stimmung befand, telefonierte ich mit meiner lieben Freundin Sonja. Auch sie ist seit vielen Jahren an MS erkrankt und schlägt sich unglaublich wacker. Seit gefühlt ewigen Zeiten begleiten wir einander. Während unseres Telefonates sprachen wir über dies und das. Dann fragte sie so ziemlich aus dem Zusammenhang: „Wir hatten doch bis jetzt ein schönes Leben, oder nicht?“ Da wir beide aber schon eine ganze Weile miteinander gequatscht hatten und unsere Ohren schon zu qualmen begannen, vereinbarten wir, zu einem späteren Zeitpunkt erneut darüber zu sinnieren. Bis jetzt kam es noch nicht dazu, aber ich fand die Fragestellung artikelverdächtig.  

Nach dem Telefonat

Mir ging ihre Frage nicht mehr aus dem Kopf. Hatte ich tatsächlich ein schönes Leben? In mich hineingehorcht, konnte ich diese Frage ad hoc mit „Ja“, „Weiß nicht“ und mit „Nein“ beantworten. Na toll, das brachte mich jetzt auch nicht weiter. War denn mein Leben bisher wirklich nur zu einem Drittel schön gewesen? Ich musste stark nachdenken. Und je länger ich mich mit dieser Thematik beschäftigt habe, umso tiefer bin ich in meine Vergangenheit eingetaucht. In eine Vergangenheit, die in den letzten 20 Jahren extremst durch die MS-Erkrankung geprägt war. Es hat Höhen und Tiefen gegeben, Lust und Frust, Hoffnung und dann wieder Desillusion, Kraft und Schwäche, Freude, Wut und viele Tränen. Es gab immer wieder etliche Fragen: Wo soll dieses doofe Leben noch enden? Werde ich all den noch kommenden Herausforderungen mit Stärke begegnen können? Wie wird sich die MS entwickeln? Oder aber das klare Statement: „Natürlich, ich kriege alles hin.“ Was für ein Sammelsurium an Gefühlen, Gedanken und offenen Fragen! 

Quasi mein Lebenstagebuch 

Wenn ich in solch einer ambivalenten, eher farblosen Stimmung bin, durch die verschiedenen Stimmungslagen taumle und nach Antworten für mich suche, dann schmökere ich neuerdings gern in meinen vielen bereits verfassten Blickpunkt-Artikeln. Im Laufe der Jahre ist da ganz schön was zusammengekommen. Mit der Hilfe meines Vaters habe ich mir einen Ordner mit einem knallbunten Cover angelegt, Unmengen an Farbkopien gemacht und alle Artikel alphabetisch darin einsortiert. Ist sehr praktisch, quasi Sämtliches auf einen Blick, und ich muss nicht 1000 Hefte durchblättern. Und immer griffbereit. Manchmal beömmel ich mich über meine Naivität, wie ich Dinge in Schriftform gebracht habe, manchmal bin ich baff erstaunt, wie viele persönliche Erfahrungen und Empfindungen ich darin sammeln konnte, und manchmal wiederum ziehe ich den Hut vor mir, wie kurz und knapp ich brisante Themen auf den Punkt bringen kann. Aber ganz elementar wichtig ist, dass ich in besagtem Ordner unglaublich viele liebevolle, positive und ermutigende Zeilen, mein Leben betreffend, finden kann. Damit habe ich mir so was wie mein eigenes Lebenstagebuch geschaffen. Und wissen Sie was? Solch einen Schatz zu haben, ist Gold wert. Für mich. Es lohnt sich immer mal wieder, auf eine kleine „Lesereise“ zu gehen. In die bunte Welt meines Lebens abzutauchen. So hatte ich im Rahmen meines Artikels vom zweiten Quartal 2019 ebenfalls in meinem „Therapiebuch“ rumgelesen, was dann quasi die Grundlage für den letzten Artikel bildete. Ganz schön praktisch, solch ein Ding.

Rein in die Vergangenheit

Bei meiner Rumleserei letztens stieß ich auf die Seiten vom ersten Quartal 2014. Mit dem Titel: „Und das Leben läuft an einem vorbei? Von wegen!“ Wow! Was für tolle, grandiose Gegebenheiten aus meinem Leben ich in diesem Artikel beschrieben hatte. Ich erzählte darin von meinem „Werdegang“ als junge Frührentnerin, die aufgrund der MS in ein Loch gepurzelt war. Und auch, dass ich mir die Frage stellte, was mir das Leben seit der Diagnose 1999 denn an schönen Erlebnissen überhaupt noch beschert hatte. Also, eine ähnliche Fragestellung wie heute. 
Damals (ich glaube es war in 2010) füllte ich ein großes Zeichenblockblatt mit ganz vielen wunderbaren, manchmal einzigartigen Erlebnissen, die ich trotz Krankheit (!) erleben durfte. Alles wurde in kurze Sätze gefasst und mit der entsprechenden Jahreszahl versehen. Viele bunte Stifte kamen zum Einsatz. Das Auge will schließlich auch farbenfroh bedient werden. Nach anfänglichen Schwierigkeiten wohlgemerkt, denn so auf Anhieb wollte mir bei der Aufschreiberei partout nichts Positives einfallen. Dann aber öffneten sich die Schleusen der Erinnerung und es sprudelte nur so aus mir heraus. Ich schrieb, was das Zeug hielt. 
Mittlerweile gibt es übrigens noch ein zweites ähnlich beschriebenes Zeichenblockblatt aus dem Jahr 2016. Bei der nächsten „Sinnkrise“ hat mir diese Art der Erinnerung an vergangene Zeiten auch wieder sehr geholfen. Ich bin ein visueller Typ. Ich brauche die Schriftform und bunte Farben, damit ich mir etwas besser vorstellen bzw. merken kann.

Aber zurück zu meiner Ursprungsfrage

Hatte ich ein schönes Leben bis jetzt? Ja doch, hatte ich. Auch mit der MS. Auf einmal fiel mir die Antwort ganz leicht. Ich muss mich nur von Zeit zu Zeit an all das Wunderbare erinnern.
Ich bin mir treu geblieben, habe mich nicht zu irgendeiner (für mich) damals noch dubios anmutenden Medikamentenbehandlung hinreißen lassen, habe meistens auf mein Körpergefühl gehört und mich auf meine instinktive Einschätzung verlassen. Trotz der Krankheit konnte ich mir, im Großen und Ganzen, meinen Abenteuersinn erhalten. Habe (fast) jede Gelegenheit im Rahmen meiner Möglichkeiten beim Schopfe ergriffen und bin losgedüst. Ich bin auf wunderbare Reisen gegangen und konnte viel von der Welt sehen. Ich habe mehrfach auf einer Theaterbühne gestanden, an mächtig hohen Kletterwänden gehangen und trommle noch immer bei der japanischen Taiko-Gruppe „Aman Djaku“. Obendrein wurde ich mit vielen tollen Menschen beschenkt, die mich wertschätzen und mich gerne unterstützen wollen. Einfach, weil es ihnen Spaß macht. Die Menschen, die mir nicht wohlgesonnen sind, lasse ich jetzt mal bewusst aus dem Spiel. 

Eine Heldin sein?

Oft höre ich von Leuten: „Mensch Petra, was du alles machst. Das machen ja noch nicht mal Gesunde.“ Ach, echt? Bin ich deswegen so was wie eine Heldin für andere? Man könnte so manches Mal diesen Eindruck gewinnen, so vehement machen sie solche Äußerungen mir gegenüber.
Oftmals fühle ich mich aber gar nicht heldinnenhaft. Eigentlich versuche ich nur, mein Leben, so gut wie es geht, auf die Reihe zu kriegen. Mit all den Aufs und Abs. Will kein Vorbild sein, bin es aber scheinbar dennoch.
Zu Weihnachten verschicke ich jedes Jahr einige Mails, denen ich Fotos von Aktionen anhänge, die ich in dem sich dem Ende neigenden Jahr gemacht habe. Damit die Menschen, die ich nicht so oft sehe, einen kleinen Einblick in mein Leben bekommen. Die Antwort meines französischen Freundes hat mich sehr berührt. Berührt vielleicht deswegen, weil wir uns schon seit 1985 kennen, aus meiner wilden Zeit, lange bevor die Krankheit ins Spiel kam. Hier ist seine Mail:

Merci ma chère Petra pour ton mail et bons voeux, aussi pour ces belles photos de bons souvenirs pour toi!! J'ai bien lu mon mail et je t'admire toujours dans ta bataille et ta force pour simplement vivre au mieux avec ton handicape. C'est aussi une bonne leçon que tu donnes, à nous tous qui sommes valides et souvent un peu trop "dépressifs" avec nos petits problèmes existentiels!!
Passes encore de bonnes fêtes et merci pour ce message de courage!
Bisous bisous!!

Die sinngemäße Übersetzung: Er bewundert mich in meinem Kampf und meiner Stärke, mit dem Handicap zu leben. So gut es eben geht. Es ist für ihn eine gute Lektion, die ich ihm gebe, eigentlich für alle, die gesund sind und oft ein bisschen zu „depressiv“ mit ihren kleinen Problemchen sind. Küsschen, Küsschen!! Na denn…

Was wäre wenn?

In diesem Zusammenhang stellt sich mir eine ganz andere Frage: Wie würden denn die Menschen von mir sprechen, wenn ich kerngesund daherkäme? Wenn ich nicht erkrankt wäre, sondern „normal“ arbeiten und ein „normales“ Leben führen würde? Wenn ich 08/15 wäre, eine von vielen? Würde man mich noch immer für etwas Besonderes halten oder reihte ich mich dann doch eher in all die nicht so außergewöhnlichen Lebensläufe ein? Das ist natürlich eine rein hypothetische Frage, denn eine Antwort darauf wird mir niemand geben können. Aber manchmal frage ich mich das schon.

Was braucht mein Herz, um glücklich zu sein?

Gegenseitige Liebe und Respekt. Geteilte schöne Momente. Ganz besonders mit meinen Eltern, Freunden und Bekannten. Begegnungen auf Augenhöhe. Urlaubstouren gemeinsam mit anderen erleben. Workshops und Seminare zu den unterschiedlichsten Themen besuchen. Ausflüge in die kulturelle Welt der Museen und Ausstellungen unternehmen. Ein berührender Film. Ein Theaterstück. Musik, die sofort ins Herz geht und dort ihre Spuren hinterlässt. Abends mit einem guten Buch im Bett liegen und so lange lesen, bis mir die Augen zufallen. In meinem „Lebenstagebuch“ blättern oder meine zwei „Erlebniszeichenblockblätter“ bestaunen. Ein Setting, in dem auch ich mal was geben kann. Immer nur nehmen (Pflege und Co.) füllt mich nicht aus.

Liebe Blickpunkt-Leserinnen und Blickpunkt-Leser, ich wünsche uns allen ein „schönes“ und buntes Leben. Was immer auch das für jeden von uns bedeutet.

Herzlichst Ihre
Petra Orben