Im Portrait: Richard Grabinski
Richard Grabinski, Blickpunkt-Ausgabe 03/2012
Es war Sonntag, der 15. August 1965, meine Frau und ich besuchten an diesem Wochenende ihre Eltern bzw. meine Schwiegereltern (wir waren gerade vier Monate verheiratet). Wir hatten ein schönes Wochenende zusammen verbracht. Am nächsten Morgen gegen 05.0O Uhr war ich auf dem Weg von der Toilette zum Bett und hatte plötzlich kein Gleichgewichtsempfinden mehr, musste mich an der Wand abstützen und konnte kaum noch gehen. Als ich dann im Bett lag, drehte sich alles um mich herum, meine Augen konnte ich nicht mehr auf einen Punkt fixieren und ich sah alles doppelt. Vom Kopf bis zu den Füßen kribbelte mein Körper.
Vom Ausbruch der Krankheit zur Diagnose
Wir waren erschrocken und ratlos. Mein Arbeitgeber wurde verständigt und später auch unser Hausarzt, ein sogenannter praktischer Arzt. Er konnte sich keinen Reim auf meine Symptome machen und meinte, es könnte der Kreislauf sein, ich wäre ja noch sehr jung - ich war 22 - und die Symptome würden sicherlich bald verschwinden. Er verschrieb mir ein entsprechendes Medikament und ging. Weil es nicht besser wurde, schlug der Arzt vor, einen Nervenarzt (Neurologe war damals noch nicht so gängig) hinzuzuziehen.
Er fragte mich, wen ich gern hätte. Zunächst war ich ratlos, denn mit Nervenärzten hatte ich vorher nie zu tun, erinnerte mich dann aber an einen Namen, den ich schon öfter von meiner Großmutter gehört hatte und schlug Frau Dr. P. vor. Und so kam diese Ärztin zu mir. Sie untersuchte mich mehr oder weniger schweigend, hinterließ die Krankmeldung und wir vereinbarten einen Termin in ihrer Praxis.
Meine Frau schaute sich die Krankmeldung an, als Diagnose stand darauf „frische MS". „MS", davon hatte ich nie gehört. Meiner Frau dämmerte etwas, sie rief die Ärztin an und fragte, ob „MS" Multiple Sklerose bedeute. Die Antwort war ja! Da war der Schock groß, was nun? In der Praxis wurde dann eine Lumbalpunktion vorgenommen und wenige Tage später wurde die neurologische Untersuchung bestätigt, einwandfrei, es war eine frische MS.
In der Zwischenzeit besserte sich mein Gleichgewicht, der Nystagmus war nicht mehr so ausgeprägt, nur die Doppelbilder hielten sich hartnäckig. Was war zu tun? Frau Dr. P. sagte: Ich kenne ein Sanatorium, die Leitung hat ein Dr. Evers, die machen etwas mit der Ernährung, da schicke ich Sie hin.
Am 16. August 1965 bekam ich MS und am 30. August 1965 war ich bereits im Sanatorium von Herrn Dr. Joseph Evers (heute Klinik Dr. Evers). Danach folgten bis heute 33 weitere Aufenthalte innerhalb von 47 Jahren. Mein erster Aufenthalt in der Evers-Klinik dauerte sechs Wochen. Meine Behandlung war diätetisch-physikalisch und im Laufe der Wochen verschwanden die Doppelbilder und auch der Nystagmus bildete sich so weit zurück, dass er nicht mehr störend war.
Therapie in der Evers-Klinik: die Evers-Diät
Dr. Joseph Evers hatte eine Diät entwickelt, bekannt als Evers-Diät. Meine Behandlung bestand ab sofort in der Umstellung meiner Ernährung. Dem folgend gab es für mich nur noch die Evers-Diät. In den 47 Jahren meiner MS-Karriere wurde ich nie medikamentös behandelt. Ich bekam also nie Betaferon®, Rebif®, Copaxone® oder anderes. Ich hatte zwei aus meiner Perspektive schwere Schübe und ich bekam Kortison (Ultralan®) in einer aus heutiger Sicht lächerlichen Dosis, und zwar 100 mg in Tablettenform, wobei ich die Tablette noch in vier Teile teilen musste. 1977 war ich sechs Wochen blind auf dem rechten Auge, ein anderes Mal hatte ich eine Gesichtslähmung auf der rechten Seite. Weitere Symptome waren im Laufe der Jahre: ausgeprägte Parästhesien, Kribbeln mal hier mal dort, unterschiedliches Temperaturgefühl, d. h. duschte ich warm, so war die linke Körperhälfte zwar „warm", die rechte Seite jedoch „kalt". Duschte ich kalt, so war das Temperaturempfinden genau umgekehrt.
Soweit zur Vorgeschichte, die sicherlich insofern bemerkenswert ist, als dass die Diagnose MS innerhalb weniger Tage feststand und ich bereits zwei Wochen nach dem ersten Schub in die für mich richtige Klinik kam. Die Doktoren Joseph Evers und sein Sohn Paul Evers haben mir unendlich viel geholfen. Die Grundlagen der Evers-Diät habe ich tief verinnerlicht und ab sofort war diese die für mich richtige Ernährung und die richtige Therapie. Nie hatte ich Zweifel an dieser Therapie, die in der Klinik und später auch ambulant durch physiotherapeutische Maßnahmen unterstützt wurde.
Die Evers-Diät habe ich sechseinhalb Jahre in ihrer reinen und strengen Form eingehalten. Ob bei Verwandtenbesuch oder im Urlaub, meine „Diät-Utensilien", wie z. B. Schalen und Siebe zum Einweichen und Keimen der Körner, hatte ich immer dabei. Mit den erlaubten Kosterleichterungen ging es dann weiter und erst ab Anfang 1980 fing ich wieder an, nach Rücksprache mit Herrn Dr. Paul Evers, in Maßen „normal" zu essen.
Immer wieder wurden wir Patienten zur Ruhe angehalten und dazu, mit unseren Kräften sparsam umzugehen. Banal, aber wahr: Wenn ihr 500 Meter geht, dann sind es auch 500 Meter wieder zurück. Immer wieder wurde mir und uns gesagt: Auch wenn die MS sich mal wieder mehr als gewöhnlich bemerkbar macht, keine Panik, Ruhe bewahren und abwarten. Immer wieder kommt es zu Remissionen. Letztere sind bei mir sehr ausgeprägt. Fast alle Symptome haben sich bei mir immer wieder von allein zurückgebildet, wenn auch nicht zu 100 Prozent, aber doch so, dass sie für mich keine große Beeinträchtigung darstellten.
Ein ganzes Leben mit MS
47 Jahre MS, und ich war immer berufstätig, wenn auch mit MS-bedingten Pausen. Zwischendurch studierte ich noch Maschinenbau. Trotz MS habe ich dreimal meine Stelle gewechselt, und zwar ohne Probleme. Von Berufs wegen war ich viel auf Reisen, im In- und Ausland, Übersee wie USA, China, Japan und in Europa.
Wegen der MS bekam ich in meiner ersten Firma, einem Großunternehmen, einen anderen Arbeitsplatz. Ich kam so mit anderen Menschen zusammen und erhielt neue Impulse. Mit anderen Worten, durch die MS bekam mein Berufsleben eine völlig andere Richtung, die ich die restlichen Jahrzehnte, bis zu meinem Eintritt in das Rentnerdasein, beibehielt.
Meine Diagnose ist sekundär-chronisch-progredient. Erst jetzt spüre ich das Merkmal „progredient", und zwar insofern, als dass seit circa zwei Jahren meine Gehdauer bzw. Gehleistung nachlässt. Ich bin aber nach wie vor auf keine externen Hilfen angewiesen. Die Blase, eine unendliche Geschichte, sie reagiert mittlerweile imperativ, schon mal lästig, aber alles im Bereich des Erträglichen.
Ich hatte, bis auf eine Neurologin, immer Ärzte, die mich unterstützten, mit denen ich auf Augenhöhe kommunizieren konnte. Ich lebe mit meiner MS, im Griff habe ich sie nie, aber ich achte auf ihre Mucken und wenn es mal mehr wird als gewöhnlich, dann halte ich Ruhe ein, schaue in mich und orientiere mich mental neu. Ich erinnere mich noch gut an einen bestimmten Tag: Ich arbeitete am Computer im Büro und konnte von einem Moment auf den anderen keine Buchstaben mehr erkennen, und wenn, dann nur in Fragmenten. Ich spürte, wie Angst von mir Besitz ergreifen wollte. Ich schloss die Augen, zwang mich zur Ruhe. Nach circa zwanzig Minuten wurde es besser und ich konnte mit dem Auto nach Hause fahren. Ich legte mich, wie üblich bei solchen Attacken, sofort hin und hielt Ruhe ein. Noch am selben Abend waren meine Augen wieder in Ordnung. Verschweigen will und darf ich nicht, was mir noch eine Hilfe war und auch weiterhin ist: Ich bin überzeugter Christ und weiß mich in Gottes Hand geborgen und getragen.
Wenn ich all die Ratschläge befolgt hätte, die mir immer dann gegeben wurden, wenn es mir nicht gut ging, ich mal wieder eine längere Pause einlegen musste, z. B. wegen Schwäche in den Knien (ich konnte dann nicht lange stehen und auch mit dem Gehen sah es nicht so gut aus), wer weiß, wie mein Zustand heute wäre. Meine Linie war immer „keine Experimente" und so ist es auch bis zum heutigen Tag geblieben.
Psyche und MS – der unterschätzte Faktor
„Forum Psychosomatik" - leider erfuhr ich erst vor einigen Wochen von dieser Publikation bzw. von der Stiftung Lebensnerv und finde es außerordentlich bemerkenswert, dass sich eine Organisation ausschließlich mit dem Thema „psychosomatische MS-Forschung" befasst. Als ich davon hörte, war ich doch ziemlich elektrisiert, weil ich genau hier die Ursache für meine MS sehe und deren Beginn ziemlich genau lokalisieren kann. Ich erwähnte bereits, dass wir vier Monate verheiratet waren (und wir sind es immer noch), als ich die MS bekam. Zu diesem Zeitpunkt wohnten wir bei meiner Mutter, insgesamt sechs Monate. Ich war anderthalb Jahre bei der Bundesmarine, Grundausbildung, Härtemarsch, wenig Schlaf, immer in Bewegung, alles überstanden ohne Nachwirkungen, aber die sechs Monate bei meiner Mutter waren dazu angetan, eine „schlafende MS" zu wecken und zu aktivieren. Mein Vater kam aus dem zweiten Weltkrieg nicht zurück, ich habe ihn also nie gesehen und bin ohne Vater aufgewachsen. Mein älterer Bruder heiratete ebenfalls sehr früh und meine Mutter hatte mit ihrem jüngeren Sohn noch so einiges vor. Da passierte es, ich kam von der Marine zurück und war verlobt (ohne sie vorher zu fragen). Das war natürlich von Übel und meine Mutter hat uns unseren Start in das neue Eheleben nicht leicht gemacht, sondern ihre Ablehnung gegenüber meiner Frau offen zur Schau getragen. Sie konnte meine Frau nicht akzeptieren. Ich stand unter großem psychischen Druck, dem ich nur „standhielt", indem ich diesen durch die MS kompensierte. Klingt sicherlich alles merkwürdig, aber es ist so abgelaufen und ich sehe dies so. In meiner gesamtem Familie und Verwandtschaft hatte nie jemand eine chronische Krankheit oder etwas, was auch nur in der Nähe eines Nervenleidens zu lokalisieren wäre.
Über die „Macht der Mütter" wurde schon viel geschrieben, meine Frau und ich haben diese massiv gespürt. Meine Mutter ist heute noch ab und zu präsent, obwohl sie seit 15 Jahren nicht mehr lebt. Das Todesjahr meiner Mutter weiß ich nicht, ich kann es mir nicht merken, es ist mir auch gleichgültig.
Meine Frau und ich „erholten" uns erst, nachdem wir unsere erste gemeinsame Wohnung bezogen, und gänzlich besser wurde es, als wir den Wohnort wechselten und eine Distanz von mehreren hundert Kilometern zwischen den Wohnorten lag.
Zum Thema MS und Psyche könnte ich aus eigener Anschauung noch mehr beitragen, will es aber bei dem bisher Gesagten belassen. An der Kausalität gibt es für mich überhaupt keinen Zweifel, es ist für mich Fakt. Nun sind wir bereits 47 Jahre verheiratet, haben zwei Söhne und fünf Enkel. Unsere Söhne sind mit meiner MS aufgewachsen, anders kennen sie ihren Vater nicht. Sicherlich war immer die Sorge präsent, wie sich diese weitergegebene Veranlagung bei unseren Kindern auswirken wird. Nun, bis zum heutigen Tag war Entsprechendes kein Thema bei uns.
MS und Psyche, ich sprach kürzlich mit meinem Neurologen über dieses Thema. Er sieht hier einwandfrei Zusammenhänge, sieht sehr wohl die Notwendigkeit, dass diesem Feld eine wesentlich größere Aufmerksamkeit zu widmen wäre, doch die jeweils zur Verfügung stehende Zeit lässt ein tieferes Nachfragen nicht zu. So bleibt es also bei der Untersuchung der Symptome, in der Hoffnung, hierfür das passende Medikament verschreiben zu können.
Bei meinen Klinikaufenthalten stelle ich immer wieder fest, dass nach einer relativ kurzen Zeit des Kennenlernens und gezielten Nachfragens das herausbricht, was die Seele belastet und wie das soziale/familiäre Umfeld zum Zeitpunkt des MS-Ausbruchs war. Da kommt es vor, dass der Mitpatient kaum noch zu bremsen ist, wenn die Dämme brechen. In den früheren Jahren bis 1990 gab es in der Evers-Klinik keinen Fernseher im Krankenzimmer, nur zwei Apparate in Gemeinschaftsräumen. Ich höre noch Dr. Joseph Evers: „Setzt euch zusammen, spielt etwas, erzählt euch eure Geschichte und lernt aus diesen Erfahrungen, aktiviert eure Selbstheilungskräfte!"
MS und Psyche, ein weites, zum Teil noch braches Feld. In fast allen neurologischen Kliniken ist der Focus bei der Befundaufnahme ausschließlich auf die sichtbaren Defizite gerichtet, was war, wo liegen augenblicklich die Schwierigkeiten, was wurde bisher gemacht. Der untersuchende Arzt stellt den augenblicklichen Zustand fest und legt die Therapie für die Aufenthaltsdauer fest. Ein weiteres Übel ist das durch die Gesundheitsreform des Jahres 2000 im Jahre 2003 eingeführte neue Abrechnungssystem DRG, Diagnostic Related Groups (deutsch: Fallpauschale). Beabsichtigt war die Liegedauer zu verkürzen, mehr Effizienz, Transparenz und Wettbewerb. In der Regel werden zehn Tage bei MS genehmigt. Davon An- und Abreise und ein Wochenende abgezogen, verbleiben sechs Tage effektive Behandlungsdauer. Was kann da getan werden? Der Arzt hat wenig Zeit, sieht den Patienten kaum, der Physiotherapeut kann nur Dinge feststellen und anstoßen, aber nicht feststellen, inwieweit eine angefangene physiotherapeutische Maßnahme greift. Man kommt da nur zu einem Schluss: Das System funktioniert, was stört, ist der Patient.
Die Herausforderung annehmen und umdenken
Insgesamt gesehen habe ich einen guten Verlauf. Eine MS hat man nie im Griff, aber – so ist meine Erfahrung -, man muss ihr nicht noch mehr Raum geben als sie ohnehin schon fordert. Durch gedankliche und emotionale Steuerung lässt sich etliches abmildern. Wer MS hat, kann sich hundertmal sagen und fragen: Wieso gerade ich? Ich bin noch jung, stehe voll im Berufsleben, habe Erfolg und nun das. Zugegeben, es ist schon ein ziemlicher Schlag. Letztendlich bleibt uns doch nur die Akzeptanz und der Versuch mit diesem neuen Leben fertig zu werden und seine Möglichkeiten auszuloten.
Der Choreograf und Balletttänzer John Neumeier sagte einmal in einem Interview: Mein Körper hat mir nicht immer gehorcht. Ich hatte ein Meniskusproblem im Knie, das operiert werden musste. Die Ärzte meinten, in drei Wochen wäre ich wieder fit. Natürlich war das Knie viel länger geschwollen und ich wachte ungeduldig nachts auf und war böse auf meinen Körper. Ich glaube, gerade deshalb hat es besonders lange gedauert. Ich habe gelernt, dass man Sympathie für den Körper haben, ihm Zeit geben muss. Als ich dann am zweiten Knie auch Meniskusprobleme bekam, ging ich sehr viel verständnisvoller mit meinem Körper um. Prompt war der Genesungsprozess viel kürzer.
Hier schließt sich für mich der Kreis. Die Multiple Sklerose ist doch viel zu komplex, als dass ich sie, sobald ich Veränderungen spüre, mit dem ständigen und sofortigen Ruf nach einem Medikament behandeln oder ihre Auswirkungen nachhaltig für einen längeren Zeitraum eindämmen könnte. Aber wir sind nun mal so oder wurden so gepolt: Egal was dich beschwert, hier ist das schnell wirkende Gegenmittel, nimm es und du bist wieder fit.
Alles hat seine Zeit, "weinen, lachen, wehklagen und tanzen", so steht es im Alten Testament, im Buch Prediger 3, Vers 4. Auch der Heilungsprozess ist davon betroffen, auch er braucht seine Zeit. Nach meinen Erfahrungen werden die in uns schlummernden Selbstheilungskräfte vernachlässigt. Wir geben schnell an die medizinische Fachwelt ab und vergessen oft, dass wir selbst auch eine Verantwortung für uns und unseren Körper haben.
Manchmal zwingt uns unser Körper zur Ruhe, zum Umdenken. Trotz aller Ungeduld, diese Zeit sollten wir uns nehmen!