Hypnotherapie bei MS: Ein persönlicher Erfahrungsbericht
Sabine Rochlitz, Blickpunkt-Ausgabe 03/2020
Im April 2015 erhielt ich die Diagnose Multiple Sklerose. Da die Krankheit wohl schon länger bestanden hatte, begann ich rasch eine Basistherapie. Unter Interferon verschlechterten sich Nieren- und Leberwerte, das Spritzen belastete. Die Fatigue nahm zu, die Laufstrecke ab. Zudem folgte 2016 ein Schub, dessen Symptome sich nicht zurückbildeten. Die Wirkung anderer MS-Medikamente überzeugte mich nicht. Vor allem der Skandal um das Mittel Zinbryta, wegen mehrerer Todesfälle vom Markt genommen, führte zum Umdenken. Ende 2017 begann ich eine Behandlung mit Hypnose. Meine positiven Erfahrungen mit der Therapie möchte ich hier mit Ihnen teilen.
Der lange Weg zur Diagnose
Etwa um 2000 herum fingen komische Beschwerden an: Mal waren plötzlich zwei Finger der linken Hand taub, mal der ganze Arm oder eine Gesichtshälfte, mal knickte ein Knie weg. Alles verschwand so rasch, wie es kam. „Beginn aus heiterem Himmel“ notierte 2004 die Neurologin. Ihre Diagnose: generalisierte Angststörung.
2006 hatte die Ärztin einen Verdacht. Auf der Überweisung zum MRT las ich „Encephalitis disseminata?“ – die Fachbezeichnung für MS. Der Radiologe sah zwar einen „fraglichen, sehr kleinen Demyelinisierungsherd“, riet aber: „Machen Sie sich keine Gedanken.“
2009 vermerkte die Neurologin „Gleichgewichtsprobleme beim Gehen“. Ein MRT ergab „keine Zeichen entzündlicher Hirngewebsläsionen“. Da ich mich auch psychisch nicht gut fühlte, war für den parallel aufgesuchten Chefarzt einer Fachklinik alles klar: Die grenzwertigen evozierten Potenziale in den Beinen schob er aufs Übergewicht und empfahl mir wegen der „sicher zum Teil somatoform zu deutenden Beschwerden“ eine Psychotherapie.
2013 sagte ich zu meinem Hausarzt: „Halten Sie mich nicht für verrückt, aber wenn ich den Kopf nach vorne beuge, kann ich mir einen Stromschlag im linken Arm versetzen.“ Heute weiß ich: Das nennt man Lhermitte-Zeichen. Einem CT folgten Überweisungen für MRTs von Kopf und HWS. Die habe ich bis heute hier liegen, Stress und eine Lungenentzündung mit neun Tagen Klinik hielten mich ab. Doch die Einschränkungen nahmen zu. Ich lief unsicher und häufiger mit Wanderstöcken, hatte hin und wieder Wortfindungsstörungen, mein Gedächtnis ließ mich manchmal im Stich, und immer öfter überkam mich plötzlich eine unerklärliche und überwältigende Erschöpfung.
Anfang 2015 ein Kopf-MRT. Dann ging alles ganz schnell. Der Radiologe fand „einzelne wenige Millimeter messende Läsionen“ und empfahl, eine chronisch entzündliche ZNS-Erkrankung auszuschließen. Im Krankenhaus eine Lumbalpunktion, weitere MRTs von HWS und BWS sowie diverse andere Untersuchungen, dann der Schock: „schubförmig komplett remittierende Multiple Sklerose“. Vom Krankenhausbett aus recherchierte ich im Internet, wollte alles tun, um der so lange unerkannten Krankheit Paroli zu bieten. Die Empfehlung: rasch mit Medikamenten das Immunsystem modulieren oder unterdrücken. Das Mantra der Schulmedizin: „hit hard and early.“ Ab diesem Zeitpunkt war ich arbeitsunfähig.
Im Herbst 2015 folgten mehrere Wochen stationäre Reha. Die täglich mehrstündigen Behandlungen waren hilfreich, aber zu Hause von den Leitlinien nicht vorgesehen. Das Beste: Ich lernte andere Menschen mit MS kennen. Ansonsten Frust: Zu den bereits kurz nach Kortisongabe wiedergekehrten und zunehmenden Beschwerden zeigten sich unter Betaferon weitere Symptome: Antrieb und Stimmung waren gemindert, die Fatigue wurde immer stärker, teilweise nach 30 Minuten erhebliche Beeinträchtigungen der Konzentration und Aufmerksamkeit, des Sehens und Sprechens, der Motorik. Zu Gangunsicherheit und Gleichgewichtsproblemen gesellten sich Koordinationsstörungen und Drang-Inkontinenz.
Eine Anfang 2016 versuchte Wiedereingliederung in den Journalismus musste abgebrochen werden, die Steuerberatung ging wegen kognitiver Probleme sowieso nicht mehr. Nach der Aussteuerung bei der Krankenkasse folgte Arbeitslosengeld 2, da ich zuvor nicht versicherungspflichtig beschäftigt gewesen war. Ich stand vor dem Nichts. Der Neurologe schrieb: „Als weitere Möglichkeiten verbleiben nur Fortsetzung der Krankengymnastik, Einteilung der Kräfte und Weiterführung der begonnenen medikamentösen Behandlungen.“ Mit Anfang 50 keine berauschende Perspektive…
Ich schreibe meine eigene MS-Geschichte
Das Jahr 2017 wurde zum Wendepunkt. Skeptisch gegenüber den angepriesenen Medikamenten suchte ich nach Alternativen, zumal der erste Rollator geliefert wurde. Dank Facebook stieß ich auf das Coimbra-Protokoll (CP), auf der Internet-Seite „lsms.de“ fand ich ein Seminar im September. Dessen Themen: CP, Bewegung und Traditionelle Chinesische Medizin. Die TCM beeindruckte mich. Auch die Vitamin-D-Hochdosistherapie klang interessant, ich traf mich im Oktober mit Anwendern und Interessierten. Gemeinsam mit einer inzwischen guten Freundin vereinbarte ich für den März 2018 einen Termin bei einer „Protokollärztin“. Die Zeit bis dahin wollte ich nutzen.
Im November 2017 nahm ich Kontakt zu einem am Krankenhaus tätigen Arzt auf, der in seiner Privatpraxis TCM anbot. Das erste Telefonat war angenehm, er brachte die „Hypnotherapie“ ins Gespräch. Ich war überrascht, aber neugierig. Und bekam am Nikolaustag den ersten Termin. Der Arzt erfragte ausführlich meine Beschwerden, Wünsche und Ziele. Noch nie hatte sich ein Mediziner so viel Zeit genommen, war so auf mich eingegangen. Wobei ich der Fairness halber sagen möchte, dass dies in einer kassenärztlichen Praxis wohl nicht leistbar wäre. Ich erinnere mich an meine Worte: „Ich kann wegen der MS immer schlechter laufen und sollte dringend viel Gewicht verlieren, ohne Diät.“
Der Arzt erläuterte mir genau, warum die Hypnotherapie passend sein könnte, was Hypnose ist, was sie bewirkt, wie die Behandlung abläuft. Er beantwortete meine vielen Fragen geduldig. Und wir machten eine erste Übungstrance, zum Eingewöhnen. Die erlebte ich als interessant, nicht bedrohlich. Ich empfand mich als selbstbestimmt und klar, sehr entspannt und fühlte mich danach ausgeruht. Und ich hatte kein Gefühl für die Zeit, tippte auf fünf bis sechs Minuten Dauer, tatsächlich waren es elf Minuten. Ein Phänomen, das typisch für Hypnose ist.
In der zweiten Sitzung neun Tage später wurde es konkret: Der Therapeut wollte wissen, ob ich mich erinnern könne, wann ich noch gut gelaufen sei. Das konnte ich. Vier Jahre zuvor war ich regelmäßig walken, konnte die Erlebnisse gut abrufen. Seine Fragen waren detailliert: „Wie hat es dort ausgesehen? Wie hat sich der Untergrund angehört und angefühlt? Zu welcher Tageszeit waren Sie unterwegs? Schien die Sonne? Wie hat es gerochen, was haben Sie gehört?“ Ich wunderte mich, konnte jedoch mit vielen Eindrücken dienen. Mit meinen heutigen Kenntnissen eine hervorragende Ressource, die in der Hypnotherapie wesentlicher Bestandteil ist. Die Konzentration liegt nicht auf dem, was nicht (mehr) geht, sondern auf dem positiv Erlebten, den Möglichkeiten – auch wenn sie in der Vergangenheit liegen.
Vermutlich war ich schon in diesen Momenten in einer leichten Trance, deren Wesen genau das ausmacht: Man erlebt etwas quasi tatsächlich und denkt nicht bloß theoretisch darüber nach, man fühlt die Eindrücke, mit allen Sinnen. Ähnlich, wie man bei einem fesselnden Buch in das Geschriebene nahezu eingesogen wird. Nachdem der Arzt die Informationen akribisch notiert hatte, führte er mich in die Trance. Es gibt viele Formen der Einleitung, fachsprachlich Induktion. Mich forderte er auf, eine sehr feste Faust zu machen, die Anspannung einen Moment zu halten und dann die Hand entspannt abzulegen. Danach sollte ich die Abläufe wiederholen – dieses Mal aber rein in der Vorstellung. Um die Trance zu vertiefen, werden verschiedene Techniken genutzt.
In den folgenden 25 Minuten unternahm mein Therapeut mit mir einen Spaziergang. Er beschrieb das Szenario lebendig, inklusive kleinster Details. Ich war tatsächlich unterwegs, konnte förmlich sehen, hören und riechen, was er – möglichst exakt mit meinen Worten – beschrieb, fühlte Ähnliches wie seinerzeit beim „echten“ Laufen. Zum Ende jeder Trance wird man mit bestimmten Formulierungen ins reale Hier und Jetzt zurückgeführt, mein Therapeut zählt bei mir von drei nach eins rückwärts, es gibt Varianten.
Unabdingbar: ein Vertrauensverhältnis zum Therapeuten. Sicher ist es für viele ungewohnt, sich zu öffnen. Wobei das bei jeder Psychotherapie, zu der die Hypnotherapie gehört (siehe Bericht im Blickpunkt 2/2020), Voraussetzung ist. Die vielfach geäußerte Befürchtung, man liefere sich aus, gebe die Kontrolle über sich ab, kann ich entkräften. Ich entscheide jederzeit frei, ob ich den Suggestionen folge, denn es sind lediglich Vorschläge. Passen die Bilder, nehme ich sie an. Andernfalls finde ich andere, für mich passendere – nach der „Ungehorsamkeitsregel“ setzt jeder seine eigenen Grenzen. Das Unbewusste, dem mittels Hypnose mehr Aufmerksamkeit und Raum gewidmet werden darf, hat sehr wohl Regulierungskraft.
Am Ende dieser zweiten Sitzung fühlte ich mich erneut angenehm entspannt. Direkt danach hatte ich Krankengymnastik. Meine Physiotherapeutin schaute verwundert. „Sie laufen ja fast normal“, bemerkte sie eher als ich. Bis zum nächsten Termin sechs Wochen später (den Turnus bestimme ich) hielten die Verbesserungen an, ich hatte sieben Kilogramm abgenommen. Motiviert begann ich die dritte Sitzung mit den Worten: „Das mit dem Laufen und dem Gewicht scheinen wir in den Griff zu bekommen. Können Sie vielleicht auch etwas gegen die Fatigue machen?“ Mein Therapeut schmunzelte, nickte, betonte aber, ich sei diejenige, die das könne.
Zwei Monate bzw. zwei Sitzungen später bekam ich eine maßgeschneiderte 16-Minuten-Trance, die ich bis heute regelmäßig nutze, um meine Energiereserven wieder aufzufüllen, wenn – oder bestenfalls bevor – sie erschöpft sind.
Meines Erachtens sehr wichtig ist das Üben, die Selbsthypnose. Mit dem Smartphone können die Trancen aufgenommen und jederzeit genutzt werden. Dies mache ich konsequent. Meist ein- bis zweimal am Tag, wenn nötig auch häufiger. Inzwischen habe ich ein Portfolio unterschiedlicher Trancen – zwischen zehn und 45 Minuten lang – für verschiedene Anlässe oder Befindlichkeiten. Seit Kurzem auch gegen starke Schmerzen, die mir eine Spinal-Kanal-Stenose nebst Bandscheibenvorfall beschert haben. Auch dabei hilft Hypnose.
Der Blick nach vorn ist optimistisch
Der Vollständigkeit halber: Den Ersttermin für das CP nahm ich wahr, nach den Erfolgen der Hypnose entschied ich mich aber dagegen. Ich nehme Nahrungsergänzungsmittel, auch Vitamin D, jedoch nicht in solch hoher Dosierung. Ich habe meine Ernährung umgestellt, mache regelmäßig Krankengymnastik und trainiere an Geräten. Und ich habe im Juni 2018 das Betaferon abgesetzt, nehme seither keine MS-Medikamente.
Seit dem Schub 2016, mit einer neuen Läsion, sind in den jährlichen MRTs keine im Gehirn hinzugekommen, die beiden 2015 in der BWS festgestellten Herde sind seit 2017 nicht mehr abgrenzbar. Die Hypnotherapie arbeitet auch mit Visualisierungen, ich suche noch Bilder für eine Remyelinisierung, da sehe ich Potenzial. Ich habe keine Verschlechterungen, es gibt ein paar Verbesserungen.
Wunder kann ich nicht bieten: Ich schaffe nach wie vor begrenzte Strecken, diese aber sicherer und weniger erschöpfend. Mittlerweile beziehe ich eine kleine Rente, arbeite ein paar Stunden wöchentlich. Ich habe etwa 20 Kilogramm abgenommen, bin trotz Belastungen stabil. Und ich bin gespannt, was ich mit der Hypnose noch erreichen werde…
Weiterführende Links
Buch mit Fallbeispielen aus der Hypnotherapie (ohne MS!): www.irina-schlicht.de
Informationsplattform für Interessierte: www.hypnose.de