Zum Hauptinhalt springen

Initiative Selbsthilfe Multiple Sklerose Kranker e. V.

Hippotherapie bei Multipler Sklerose - Kann das Training auf Pferden neurologische Funktionen bei MS verbessern?

Tom Foell, Blickpunkt-Ausgabe 02/2022

Unter Hippotherapie versteht man eine ärztlich verordnete, physiotherapeutische Einheit auf neurologischer Basis auf dem Pferderücken. Aber stopp, bevor ich direkt einsteige, muss ich noch erklären, wie ich überhaupt zu dem Thema gekommen bin: Wer schon einige meiner Artikel im Blickpunkt gelesen hat, weiß, dass ich mich am liebsten mit Therapiemethoden für Menschen mit MS (ab hier kurz MmMS) beschäftige. Meistens komme ich über eine intensive Recherche zu einem neuen Thema, das ich dann auch gerne erst einmal mit Expert*innen genauer beleuchte, bevor ich in einen Praxisversuch einsteige. Bei der Hippotherapie war und ist das etwas anders. Das erste Mal bin ich in einem Dänemark-Urlaub 2016 mit meiner Familie damit in Kontakt gekommen. Damals ist meine kleine Tochter selbst noch viel geritten und als wir an einem Pferdegestüt vorbeigefahren sind, kam sofort die Idee auf, für sie einen kleinen Reitausflug zu machen. Da das Reitgestüt aber auch Hippotherapie mit Islandpferden anbot, erfuhren wir dort, dass auch ungeübte Reiter*innen ohne große Probleme bei einem Ausflug teilnehmen können. Die Isländer beherrschen mit dem „Tölt” eine Gangart mit verhältnismäßig geringen Bewegungen des Pferderückens. Wir ritten entsprechend alle zusammen für 1 ½ Stunden quer über Wiesen, Strand und wunderschöne dänische Landschaft und waren begeistert. Damals überlegte ich, in Deutschland selbst mit dem Reiten anzufangen, wollte aber dann auch nur Isländer reiten. Leider fand ich kein passendes Gestüt in meiner Nähe – damit versickerte das Thema nach einiger Zeit. Anfang 2024, also nach ca. 8 Jahren, lief es mir aber wieder über den Weg. Besser: Es galoppierte auf mich zu – aber dazu später mehr.

Hintergrund der Hippotherapie

Die Hippotherapie nutzt die Bewegungen des Pferdes, um neurologische Funktionen bei Patient*innen zu verbessern. Wenn ein Mensch auf einem Pferd sitzt und Bewegungen wie das Durchführen einer „liegenden Acht” im Rumpf ausführt, werden die Bewegungen therapeutisch genutzt:

  1. Dreidimensionale Bewegung: Das Pferd bewegt sich in einem dreidimensionalen Muster, das dem menschlichen Gang ähnelt. Die Bewegungen werden auf den Reiter/die Reiterin übertragen und stimulieren das zentrale Nervensystem.
  2. Rhythmische Stimulation: Die gleichmäßigen, rhythmischen Bewegungen des Pferdes bieten eine konstante sensorische Stimulation, die sogar helfen kann, neuropathische Symptome wie Schmerzen oder Taubheitsgefühle zu lindern.
  3. Muskeltonus und -spannung: Die Bewegungen des Pferdes fordern den Reiter oder die Reiterin, den Muskeltonus anzupassen, um das Gleichgewicht zu halten. Schlaffe Muskeln werden aktiviert und gespannt, während spastische Muskulatur nachgeben kann, was dann zur Verbesserung der motorischen Kontrolle beiträgt.
  4. Gleichgewicht und Koordination: Durch die Anpassung an die Bewegungen des Pferdes verbessert man sein Gleichgewicht und seine Koordination. Diese Übungen fördern die Neuroplastizität, da das Gehirn lernt, die Bewegungen effizienter zu steuern.
  5. Kognitive und emotionale Effekte: Die Interaktion mit dem Pferd und die Konzentration auf die Bewegungen können auch kognitive Funktionen und das emotionale Wohlbefinden verbessern, was indirekt zur Neuroplastizität beiträgt.

Neuroplastizität und Hippotherapie bei MS

Neuroplastizität ist ein zentrales Konzept in der Physiotherapie und der Hippotherapie, da es die Grundlage für die Wiederherstellung und Verbesserung von Funktionen nach Verletzungen oder Erkrankungen bildet. Die Fähigkeit des Gehirns, sich durch Lernen und Erfahrung zu verändern, ermöglicht es auch MmMS, verloren gegangene Fähigkeiten wiederzuerlangen oder neue Fertigkeiten zu entwickeln.
In der Physiotherapie wird Neuroplastizität genutzt, um:

  • Motorische Fähigkeiten zu verbessern, indem gezielte Übungen durchgeführt werden, die das Gehirn anregen, neue neuronale Verbindungen zu bilden;
  • Kompensationsstrategien zu entwickeln, um die Funktionen von geschädigten Körperteilen zu ersetzen oder zu unterstützen;
  • Bewegungsmuster zu optimieren und die Effizienz von Bewegungen zu steigern, was zu einer besseren motorischen Kontrolle führt.

Die Hippotherapie kann also mit den o. g. Bewegungen die Neuroplastizität fördern, indem sie neue sensorische und motorische Erfahrungen ermöglicht, die das Gehirn herausfordern und zur Bildung neuer Verbindungen anregen. Das kann auch für MmMS dazu beitragen, dass das Gehirn sich anpasst und verbessert, was letztendlich die motorischen Fähigkeiten und die allgemeine Körperkontrolle verbessert. Damit ist die Hippotherapie ein gutes Beispiel dafür, wie Training die Prinzipien der Neuroplastizität nutzen kann, um positive Veränderungen im Gehirn und im Verhalten zu bewirken.

Stand der Forschung zu Hippotherapie für MmMS

Eine Studie aus 2018 zu Hippotherapie für MmMS in Deutschland mit 70 Teilnehmer*innen brachte bereits sehr positive Ergebnisse. So verbesserte sich das Gleichgewicht sehr wesentlich innerhalb von 12 Wochen (Trainingsgruppe um 6,00 Punkte im Vergleich zur Kontrollgruppe 2,9 Punkte) und in den Bereichen Müdigkeit, Spastizität und Lebensqualität zeigten sich ebenfalls positive Effekte.

Die Studie wurde mit Patient*innen mit unterschiedlichem Schweregrad der Behinderung durchgeführt und brachte für alle Betroffenen gute Ergebnisse. Aber für Menschen mit höherem Schweregrad (EDSS-Wert >5) war die Hippotherapie besonders erfolgreich. Eine neue Studie zum Thema Hippotherapie soll die positiven Ergebnisse jetzt weiter festigen und eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse erleichtern (s.u.).

Mein eigenes Erlebnis mit Hippotherapie

Von meiner Neurologin erfuhr ich von dieser Studie. Ohne lange zu überlegen, sagte ich direkt zu und freute mich auf den geplanten Start. Dann kam doch alles noch einmal etwas anders. Ich ging im April in meine zweite Reha seit Diagnose, was sich mit dem geplanten Start der Studie in 2024 überschnitt. Aber die Studienleiterin verlegte mich einfach direkt in das nächste Jahr und ich konnte schon zwei Einheiten Hippotherapie während der Reha mitmachen, die dort angeboten wurden.

Die Hippo-Physiotherapie fand im Reiterhof Moos in Salzburg, ca. 30 min von meinem Reha-Standort, unter der Leitung von Andrea Bethke (Physiotherapeutin, Hippotherapeutin) statt. Schon die Anfahrt mit dem Shuttle-Bus durch das Voralpenland war wunderschön, aber als ich in der Reithalle ankam und das Pferd sah, fing ich einfach an zu lachen: Das Therapiepferd war zwar kein Isländer, sah aber aus wie der kleine Onkel von Pippi Langstrumpf und wurde speziell für die Hippotherapie ausgebildet. Vor dem Aufsteigen streichelte ich ihn an der Nase und schaute ihm in die Augen. Das allein war schon ein tolles Gefühl.

Die Hippotherapie findet immer im 3er-Team statt, Pferd, Pferdeführer*in und Therapeut*in. Nur diplomierte Physiotherapeut*innen mit abgeschlossener Zusatzausbildung für Hippotherapie dürfen diese durchführen. Das Pferd wird dabei von einem/einer Pferdeführer*in therapeutisch von vorne, seitlich oder von hinten geführt. Mit etwas Unterstützung der Therapeutin konnte ich über eine Rampe aufsteigen und durfte dann fast 20 min reiten. Ich musste ständig aktiv auf die Pferde-Bewegungen reagieren. Die Hippotherapeutin achtete dabei besonders auf die Stellung und Mobilität meines Beckens, meines Rumpfes und meiner Extremitäten und war immer sichernd bei mir. Sie erklärte mir alles über die Hippo-Physiotherapie und ich lernte, dass therapeutisches Reiten nur ein Überbegriff ist – mehr Infos gibt es unter www.dkthr.de.

Das Reiten fand ich zwar richtig anstrengend, aber es war vor allem ein tolles Gefühl. Nach dem Absteigen hatte ich auch sofort das Gefühl, besser laufen zu können als vorher. Es hat mich nicht nur mobilisiert, sondern auch emotional richtig erwischt. Bei der zweiten Einheit in der nächsten Woche fiel mir das Reiten schon um einiges leichter und der kleine Onkel fühlte sich auch beim zweiten Mal wieder an wie ein richtiger Freund. Hört sich vielleicht verrückt an, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass nicht nur das Reiten selbst, sondern auch die Energie zwischen dem kleinen Onkel und mir einen entscheidenden Anteil an der positiven Wirkung hatte. Ich freue mich jetzt schon auf meinen Start mit der Studie im nächsten Jahr und bin sehr gespannt auf die Ergebnisse.

Allen MmMS, die Pferde toll oder auch einfach nur gut finden, empfehle ich Standorte der Studien-Reitställe anzuschauen. Und wenn einer davon passt, sich anzumelden. Vorher natürlich noch kurz prüfen, welche Ausschlusskriterien es gibt bzw. was man erfüllen muss. Ich bin gespannt auf mein Ergebnis in der Studie und wünsche auch allen anderen Teilnehmer*innen viel Spaß mit den Pferden und viel Erfolg.

 Weitere Informationen

Deutsche Gruppe für Hippotherapie e. V. Was ist Hippotherapie?, abrufbar im Internet unter www.dgh-ev.com/verein/hippotherapie.
Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten e. V., abrufbar im Internet unter www.dkthr.de.
Hippotherapie bei Andrea Bethe, abrufbar im Internet unter www.hippotherapie-andrea-bethke.jimdosite.com.
MS-HIPPO II Studie 2024. MS Patientinnen und Patienten gesucht für die Teilnahme an einer wissenschaftlichen Studie, abrufbar im Internet unter www.dkthr.de/ms-patienten-fuer-die-teilnahme-an-einer-wissenschaftlichen-studie-gesucht-dkthr.
Swedberg, L. Hippotherapie: Entwicklung der motorischen und kommunikativen Fähigkeiten, abrufbar im Internet unter www.rettsyndrome.eu/wp-content/uploads/2020/05/Hippotherapie-Entwicklung-der-motorischen-und-kommunikativen-Fahigkeiten.pdf.
Vermöhlen, V. et al. 2017. Hippotherapy for patients with multiple sclerosis: A multicenter randomized controlled trial (MS-HIPPO), abrufbar im Internet unter www.doi.org/10.1177/1352458517721354.